1985 machte sich Rotary International auf, die
Kinderlähmung auszurotten. Damals fielen der heimtückischen Krankheit jedes
Jahr mehr als 350000 Kinder in 125 Ländern zum Opfer. Dank vereinter
Anstrengungen konnte die einzigartige öffentlich-private Partnerschaft die
endemischen Poliofälle um mehr als 99 Prozent reduzieren. Sind «null Fälle» irgendwann
realistisch? Ein Gespräch mit der PolioPlus-Koordinatorin für den Distrikt
1980, Rot. Isabel Zimmermann vom RC Balsthal.
Isabel, viele Rotarier fragen sich:
Warum müssen wir jedes Jahr Millionen von Dollar für das PolioPlus-Programm von
Rotary aufbringen, wenn sich die Zahl der Fälle doch so drastisch reduziert
hat?
Die Frage ist absolut berechtigt. Das
Jahresbudget der Global Polio Eradication Initiative (GPEI) beträgt etwa 1
Milliarde US-Dollar. Rotary steuert rund die Hälfte dieser Summe bei, entweder
direkt oder indirekt. Was wir dabei aber nicht vergessen dürfen: Mit dem Geld
werden nicht nur Kinder in den Grenzgebieten von Afghanistan und Pakistan
geimpft, wo zuletzt noch endemische Fälle aufgetreten sind. Wir stellen
vielmehr sicher, dass die Krankheit auch an anderen Orten der Welt nicht wieder
Fuss fasst.
Spätestens seit Covid-19 ist uns allen
bewusst: Hochinfektiöse Krankheiten können sich durch Bevölkerungsbewegungen in
rasender Geschwindigkeit ausbreiten. Das ist bei Polio nicht anders. Solange sich
die Kinderlähmung in Pakistan und Afghanistan hält, besteht in allen Ländern
der Welt die Gefahr einer Neuinfektion.
Wir haben das in der Vergangenheit immer
wieder erlebt: Polio tauchte in Ländern wieder auf, die bereits als poliofrei
galten. Dies betraf insbesondere Länder des Nahen Ostens, Südostasiens und
Afrikas. Im vorigen Jahr ist die Krankheit in London, New York, Kanada und der
Ukraine wieder aufgetreten. Und sie könnte theoretisch auch in die Schweiz
zurückkehren, schliesslich haben wir es in einigen Gebieten mit ganz erheblichen
Impflücken zu tun. Stellen Sie sich nur einmal vor, auch hierzulande würden
wieder Kinder durch Polio gelähmt…
Wir wissen aus Modellrechnungen, dass die
Kinderlähmung, wenn wir sie nicht ausrotten, weltweit wieder aufpoppen und
innerhalb von zehn Jahren bis zu 200000 neue Fälle jährlich verursachen könnte.
Genau deshalb müssen wir die Krankheit restlos ausrotten. Und just aus diesem
Grund hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Bemühungen um die
Ausrottung der Kinderlähmung auf ihre höchste Alarmstufe gesetzt – noch höher
als die COVID-19-Pandemie. Die Risiken, die ein Scheitern mit sich brächte,
wären enorm.
Worauf konzentriert sich Rotary in
diesem Bemühen?
Mit unserem globalen Budget machen wir vor
allem zwei Dinge: Wir impfen Kinder, sehr viele Kinder, und wir überwachen die Krankheit
aktiv, um nachvollziehen zu können, wie sie sich entwickelt.
Im vergangenen Jahr beispielsweise wurden mehr
als 800 Millionen Kinder geimpft. Die meisten von ihnen stammten aus ressourcenarmen
Gebieten, wo das Risiko einer erneuten Polioinfektion am höchsten ist. Diese Gebiete
sind in der Regel von komplexen, langwierigen Notsituationen betroffen. Dazu
gehören der Nordwesten Nigerias, der Osten der Demokratischen Republik Kongo,
der nördliche Jemen und das südliche Zentrum Somalias. Und natürlich
Afghanistan und Pakistan.
Wenn man sich die Herausforderungen vor
Augen hält, die in den betroffenen Gebieten herrschen, ist die Zahl von 800
Millionen umso beeindruckender.
Aber das PolioPlus-Netz ist so gut
etabliert, so tief in den lokalen Gemeinschaften und Kulturen verwurzelt, dass
wir trotz dieser Herausforderungen in der Lage sind, 800 Millionen Kinder in
diesen Gebieten zu erreichen. Und sehr
oft sind wir in der Lage, diesen Kindern neben den Polioimpfstoffen auch
weitere Gesundheitsfürsorge anzubieten.
Ist das das «Plus» in «PolioPlus»?
Ganz genau! Das «Plus» heisst: Wir rotten Polio aus, aber
wir tun es so, dass es den Gemeinschaften bei vielen anderen Dingen hilft. Ich habe die aktive Krankheitsüberwachung
erwähnt: Es handelt sich um ein globales Netz, das eingerichtet wurde, um jeden
Poliofall überall auf der Welt innerhalb von 14 Tagen zu erkennen und zu
untersuchen. Es ist ein riesiges
Netzwerk. Das bedeutet, dass wir im
Grunde mehr als 100 000 «verdächtige» Poliofälle aufspüren und untersuchen, d.
h. Kinder, die ähnliche Symptome aufweisen, nur um auszuschliessen, dass diese
Fälle nicht durch Polio verursacht werden.
Denn wenn es sich um Polio handelt, müssen wir das sofort wissen, damit
wir sofort reagieren und grössere Epidemien verhindern können. Auf der anderen Seite hilft es aber auch,
viele andere Krankheiten zu erkennen.
Nur ein Beispiel: Während des Ebola-Ausbruchs 2014 in Westafrika reiste
ein Ebola-Infizierter mit dem Flugzeug von Sierra Leone nach Lagos, Nigeria.
Als er dort ankam, traten die Symptome auf, und der Mann wurde vom
PolioPlus-Überwachungsbeauftragten in Lagos identifiziert, der die notwendigen
Schritte einleitete, um ihn zu isolieren, die Kontaktsuche zu organisieren und
die Behandlung zu beginnen. Dadurch wurde im Wesentlichen verhindert, dass
Ebola in Nigeria Fuss fasst. Nigeria ist das bevölkerungsreichste Land Afrikas
und ein wichtiger internationaler Verkehrsknotenpunkt. Hätte sich Ebola dort
etabliert, wäre die Epidemie noch viel schlimmer gewesen, als sie es ohnehin
schon war. Aber das wurde dank des
PolioPlus-Überwachungssystems verhindert.
Okay, all das erklärt, warum wir
weiterhin so viel Geld sammeln müssen, selbst für «nur» eine Handvoll
Fälle. Aber wie lange noch? Ist eine vollständige Ausrottung der
Kinderlähmung machbar? Und wenn ja,
wann?
Ist es machbar? Technisch und biologisch gesehen,
absolut! Die Tatsache, dass 99 Prozent
der Welt, einschliesslich einiger der technisch schwierigsten Orte wie Indien,
erfolgreich waren, ist ein klarer Beweis dafür. Das Poliovirus kann nur durch
die Übertragung zwischen Menschen überleben. Wenn man also genügend Kinder in
einem bestimmten Umfeld impft, kann sich Polio nirgendwo verstecken. Man
unterbricht die Ausbreitung des Virus von Mensch zu Mensch, und die Krankheit
ist in diesem Gebiet verschwunden. Kompliziert wird es, wenn nicht genügend
Kinder geimpft werden. Die Gründe dafür sind unterschiedlich, aber keiner davon
ist technischer oder biologischer Natur. Sie sind alle geopolitisch und
gesellschaftlich bedingt. Medizinisch
haben wir alles, was wir brauchen. Jetzt brauchen wir noch den politischen und
gesellschaftlichen Willen, um jedes einzelne Kind zu erreichen. Wann werden wir
also in der Lage sein, jene Kinder, die noch nicht geimpft wurden, in diesen
letzten verbleibenden Gebieten Afghanistans und Pakistans zu erreichen? Das sind geopolitische, keine technischen
Fragen.
Was wir sagen können: Pakistan ist
eigentlich ein sehr schönes Sinnbild für die weltweiten Bemühungen. Vor 30
Jahren lähmte die Kinderlähmung mehr als 35000 Kinder in jedem einzelnen Bezirk
des Landes. Im Jahr 2023 waren sechs
Kinder gelähmt, in nur drei Bezirken einer Provinz. Die genetische Vielfalt der
Poliovirus-Übertragung - mit anderen Worten, die einzelnen, getrennten
Familienstämme des im Land zirkulierenden Poliovirus - hat sich von mehr als
einem Dutzend verschiedener Stämme im Jahr 2022 auf nur noch einen im Jahr 2024
verringert. Das bedeutet, dass das, was
wir tun, funktioniert, dass die einzelnen Familienstämme des Virus ausgerottet
werden. Ähnliche virologische und epidemiologische Entwicklungen konnten wir
übrigens auch in anderen Ländern beobachten, z. B. in Indien, als sie sich dem
poliofreien Status näherten.
Pakistan ist also auf dem richtigen Weg. Es ermittelt, warum Kinder nicht
geimpft werden, und erstellt dann Notfallpläne, um diese Ursachen zu
beseitigen. Übrigens wird in Ländern wie Pakistan und Afghanistan viel über den
«elterlichen Widerstand» gesprochen. Aber der elterliche Widerstand gegen
Impfungen ist mit etwa 1,5 Prozent gering. In der Schweiz liegen die
Ablehnungsraten mit fast zehn Prozent viel höher. Das Hauptproblem sind also
wirklich die operativen oder geopolitischen Fragen. Nehmen wir die Überschwemmungen im Jahr 2022
in Pakistan: Ein Drittel des Landes stand unter Wasser, ein Drittel der
Bevölkerung war infolgedessen auf der Flucht. Doch das PolioPlus-Programm funktionierte:
Es richtete mobile Impfstellen ein und lieferte Polio-Impfstoff zusammen mit
anderen Gesundheitsmassnahmen und Hilfsgütern in Lager für Binnenvertriebene.
Es sind also genau diese
Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt.
Die Ausrottung einer Krankheit ist nicht einfach. Das ist es auch nur
einmal in der Geschichte gelungen, nämlich 1980 mit der Ausrottung der Pocken.
Aber: Wir müssen Erfolg haben! Und wir
werden Erfolg haben. Es könnte länger dauern als erhofft, aber es wird sich
lohnen. Wir sollten uns auch vor Augen halten, wieviel wir bereits erreicht
haben: Dank PolioPlus konnten seit 1985 mehr als 20 Millionen Fälle von
Polio-Lähmung verhindert und mehr als 1,5 Millionen Leben gerettet werden.
Jedes Jahr verhindern wir, dass etwa 600000 Kinder gelähmt werden. Das sind in
jeder Hinsicht grosse Erfolge, auf die wir stolz sein können, auch wenn wir uns
weiterhin bemühen, die Fälle auf null zu senken.
Eine poliofreie Welt wäre also das
Geschenk von Rotary an die Welt?
Ja, und noch viel mehr. Indem wir
zusammenarbeiten, solidarisch auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten, unabhängig
davon, wer oder wo man ist, arbeiten wir für ein globales öffentliches Gut.
Alle Länder profitieren gleichermassen von einer poliofreien Welt. Es gibt
nichts Nachhaltigeres oder Gerechteres als die Ausrottung einer Krankheit.
1977 wurde Ali Maalin, ein Mann in Somalia, mit Pocken infiziert. Glücklicherweise überlebte er seine
Pockeninfektion und arbeitete danach viele Jahre lang für PolioPlus in Somalia.
Er sagte jeweils, dass sein Land das letzte auf der Erde mit Pocken war, und er
wolle nicht, dass es auch das letzte auf der Erde mit Polio sei. Vor Alis
Infektion im Jahr 1977 starben allein im 20. Jahrhundert weltweit mehr als 500
Millionen Menschen an Pocken. Das sind mehr Tote, als in allen Kriegen der Menschheitsgeschichte,
einschliesslich des Ersten und Zweiten Weltkriegs, zu beklagen waren. Doch dank
der weltweiten Bemühungen zur Ausrottung der Pocken wurde seit 1977 kein
einziger Mensch mehr von dieser Krankheit befallen, und die
Weltgesundheitsorganisation erklärte sie 1980 als weltweit ausgerottet.
Das ist es, was wir mit Polio erreichen wollen. Wir stehen kurz davor, unseren
Traum zu verwirklichen. Dieses Privileg bringt auch Verantwortung mit sich.
Darum meine Bitte an jeden Rotarier, jede Rotarierin: Geben Sie nicht auf. Im
Gegenteil, unsere Anstrengungen müssen jetzt verdoppelt werden. Helfen Sie mit,
gemeinsam dieses Ziel erreichen. Es ist vielleicht die wichtigste Sache, an der
wir alle beteiligt sind.
Die «Global Polio Eradication Initiative»
Angeführt
wird die «Global Polio Eradication Initiative» (GPEI) von nationalen
Regierungen, von Rotary International, der Weltgesundheitsorganisation,
UNICEF, den US-Centers for Disease Control and Prevention (CDC), der
Bill and Melinda Gates Foundation sowie Gavi, der Vaccine Alliance.
Ihnen allen ist es zu verdanken, dass im Jahr 2023 lediglich zwölf
Kinder vom Polio-Wildvirus betroffen waren; alle zwölf waren in den
Grenzgebieten Pakistans und Afghanistans zuhause.
Wie können Clubs helfen?
Isabel Zimmermann organisiert zusammen mit ihren Kollegen aus den
Distrikten 2000 (Cory Edwards) und 1990 (Oliver Rosenbauer) Kampagnen
und Aktivitäten, die ansprechend und unterhaltsam sind und den
Geldbeutel nicht allzu sehr belasten.
Zusätzlich zu der Aufforderung an die Clubs, jedes Jahr im Oktober
Veranstaltungen zum Welt-Polio-Tag zu organisieren, wie z.B. «Spar
Lunches» bei den wöchentlichen Clubtreffen, werden den Rotariern eine
Reihe von Produkten zum Kauf angeboten, deren Erlös an PolioPlus geht.
Dazu gehören:
• PolioPlus Webstamps, in Partnerschaft mit der Schweizerischen Post
(mit grossem Dank an Rot. Susann Richter, RC Augst-Raurica, die diese
Kampagne konzipiert, gestaltet und gestartet hat). Sie können direkt
über Polaris bestellt werden: https://polaris.rotary.ch/fr/agenda/show/168556;
• PolioPlus Tulpenzwiebeln, in Partnerschaft mit Rotary in den Niederlanden;
• «Tuorta da Nusch», die traditionelle Engadiner Nusstorte der Familienkonditorei Giacometti in Lavin;
• Osterverkauf von Ostereiern zu Gunsten von
PolioPlus (80000 Franken wurden so in den letzten zehn Jahren
mobilisiert, durchgeführt vom RC Frauenfeld-Untersee);
• Rioja Wein, in Partnerschaft mit Rotary Spanien.
Alle Produkte sind verfügbar und können direkt bei Isabel, Cory oder Oliver bestellt werden, unter:
• Isabel Zimmermann, tel +41 79 344 6573, email: isabel.zimmermann@gmail.com
• Cory Edwards, tel +41 76 592 0497, email: cory.edwards@rotary2000.ch
• Oliver Rosenbauer, tel +41 79 500 6536, email: rosenbauero@who.int
Ein Kochbuch zu Gunsten von PolioPlus
Neu gibt es auch ein Kochbuch zu Gunsten
von PolioPlus: Das Kochbuch ist von den Mitgliedern des RC
Allschwil-Regio Basel gestaltet worden, die Rezepte sind
Lieblingsgerichte der Mitglieder, versehen mit einer Weinempfehlung
einer Basler Enoteca. Eine Impfung kostet nur ca. 30 Rappen, die
Lohnkosten der Impfhelferinnen und -helfer in Pakistan für sechs Tage
harte Arbeit in der Woche belaufen sich auf knapp 50 Franken. Wäre es
demnach als Zeichen der Dankbarkeit gegenüber den Frontarbeiterinnen und
-arbeitern in Pakistan nicht gerechtfertigt, für 50 Franken ein
Kochbuch zu erstehen, um anderen Freude zu machen und gleichzeitig zu
helfen? Pro Buch gingen demnach 30 Franken an PolioPlus, 20 Franken
kostet die Herstellung des rotarisch geprägten Kochbüchleins. Die Idee
aus dem RC Allschwil-Regio Basel hat in der Nordwestschweiz grosse
Anerkennung gefunden. Das hat die Initianten bewogen, die Fühler in die
Distrikte auszustrecken. Sie würden sich freuen, alle Gourmets
überzeugen zu dürfen, bei dieser nationalen Aktion dabei zu sein. Hier
kann es bestellt werden: beat.oberlin@outlook.com