Das visite-Programm wurde 1998 vom Rotary Club Uster im Kanton Zürich ins Leben gerufen, um die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Heute können Lehrlinge in der ganzen Schweiz und in allen europäischen Ländern einen anderen Betrieb kennenlernen. Im Jahr 2024 bietet visite sogar drei Plätze für Bäckerlehrlinge in Ruanda an. Interview mit Rot. Tiziana Frassineti, Koordinatorin des visite-Programms für den Distrikt 1990.
Jedes Jahr absolvierte eine Handvoll motivierter Lehrlinge Aufenthalte in Prenzlau in der Nähe von Berlin, der Partnerstadt von Uster. Das visite-Programm verankerte sich schnell im Zürcher Oberland und eroberte im Laufe der Jahre auch den Rest der Schweiz. Im Jahr 2008 wurde der Verein visite gegründet. Hat sich der Zweck des Programms in den 25 Jahren geändert?
Die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt haben sich geändert, aber die eigentlichen Beweggründe des Vereins sind nach wie vor aktuell: die Förderung der Mobilität junger Berufstätiger. Denn wir halten es nach wie vor für äusserst wichtig, dass junge Menschen in der Ausbildung eine andere Kultur, ein anderes Unternehmen oder eine andere Sprache kennenlernen. Ein Austausch hebt sich in einem Lebenslauf immer positiv ab.
Was motiviert die Lernenden, am Programm teilzunehmen?
In den allermeisten Fällen geht es darum, ein anderes Unternehmen oder eine andere Branche kennenzulernen. Und es ist immer die Neugier, die sie antreibt. "Ich möchte wissen, wie man in einem anderen Unternehmen arbeitet". Das ist der Hauptgrund, den ich in den Gesprächen höre. Die Vertiefung einer Sprache ist vor allem für den Schulunterricht und die Beziehungen zu einer Gastfamilie wichtig.
Nimmt das Interesse an einem Austausch innerhalb der Schweiz eher zu oder ab?
Das ist schwer zu sagen. In der Post-Covid-Situation von 2022 hatten wir den Eindruck, dass der Austausch nur schwer wieder in Gang kommen würde. Aber für den Zeitraum 2023-2024 verzeichnen wir heute bereits 91 geplante Austauschmassnahmen.
Fühlen sich junge Menschen eher von einem Auslandsaufenthalt angezogen?
Es ist eine Binsenweisheit, dass Austauschprogramme im Ausland zunehmen. Allerdings sind sie nicht so einfach zu organisieren. Die Jugendlichen gehen für mindestens vier Wochen weg, und sowohl die Lehrbetriebe als auch die Berufsschulen müssen diese längere Abwesenheit akzeptieren. Aber der Austausch in der Schweiz bleibt ein wichtiger Pfeiler der Besuchstätigkeit. Dies umso mehr, als die neue Verordnung über die Berufsbildung der Kauffrauen und Kaufmänner die Stärkung der kommunikativen Fähigkeiten in einer Landes- und Fremdsprache vorsieht.
Kann ein Austausch auch innerhalb einer Region stattfinden?
Tatsächlich könnte ein Austausch in derselben Region stattfinden, z. B. von einer Grossbäckerei zu einer Handwerksbäckerei.
Wie ist das Verhältnis zwischen Aufenthalten im Inland und im Ausland?
Das Verhältnis liegt bei etwa zwei Dritteln im Ausland und einem Drittel im Inland. Diese Anteile haben sich in den letzten Jahren kaum verändert, ausser natürlich in der Covid-Phase.
Welche Länder nehmen an dem Programm teil?
Grundsätzlich steht der Austausch allen europäischen Ländern offen, ausser England seit dem BREXIT. Und im nächsten Jahr haben wir drei Plätze für Bäckerlehrlinge in Ruanda. Das Platzierungsland wird im Wesentlichen durch das Netzwerk der Kontakte zu Unternehmen des besuchten Vereins vorgegeben.
Erfolgt der Austausch auf Gegenseitigkeit?
Es kommt vor, dass Unternehmen uns um Gegenseitigkeit bitten, weil sie die Arbeitskraft der Auszubildenden brauchen und sie nicht für mehrere Wochen gehen lassen können. Grundsätzlich gilt aber, dass der Austausch nicht auf Gegenseitigkeit beruht.
Visite wirbt für das Programm und organisiert den Aufenthalt, der Arbeitgeber des Lernenden zahlt weiterhin den Lohn. Was bleibt für die Jugendlichen bzw. ihre Familien zu zahlen?
In der ersten Zeit müssen sie vor allem die Transportkosten tragen. Manchmal, wenn es uns nicht gelingt, eine freiwillige Gastfamilie zu finden, kommen noch die Kosten für die Unterkunft hinzu. Der Austausch wird jedoch immer durch ein Stipendium unterstützt, das von der Dauer und dem Ort der Aufnahme abhängt. In den meisten Fällen werden mindestens 50 % der Kosten gedeckt.
Finden Sie leicht eine Gastfamilie?
Dies ist in der Tat eine grosse Herausforderung für die Organisation. Es ist nicht einfach und nicht unbedingt kostenlos. In der Schweiz haben wir ein gutes Netzwerk an freiwilligen Gastfamilien, die mit Rotary verbunden sind, und an Gästezimmern. Im Ausland ist es etwas schwieriger, aber das Rotary-Netzwerk ist uns eine grosse Hilfe.
Reagieren die Unternehmen auf die Aufnahme der Jugendlichen?
In der Regel ja. Es sind natürlich vor allem die Ausbildungsbetriebe, die interessiert sind. Ihre Rückmeldungen sind in der Regel sehr positiv.
Was heben die Jugendlichen als Nutzen eines Austauschs hervor?
Zweifellos die Erfahrung einer anderen Kultur, einer Unternehmenskultur oder einer sozialen Kultur, eine Form des nicht-schulischen Lernens, die Tatsache, dass man sich "durchschlagen" muss, eine neue Einschätzung der Arbeitswelt und die Gewinnung eines neuen Selbstvertrauens. Der letzte Punkt wird übrigens nie in den Zielen des Austauschs erwähnt, sondern häufig in der Nachbesprechung nach dem Schulbeginn.
Was ist der Nutzen für Schweizer Unternehmen oder gar für unser Land?
Einige Unternehmen profitieren sehr direkt vom Know-how der Lernenden. Sei es eine neue Technologie oder Kenntnisse in den Bearbeitungsprozessen eines Dossiers, die Lernenden aus einem anderen Land erweitern sehr oft den Horizont der Gastunternehmen. In Bezug auf die Schweiz bin ich der Meinung, dass die Aufnahme eines Jugendlichen aus einer anderen Sprache oder Region immer eine Bereicherung ist und meiner Meinung nach unser duales Ausbildungssystem stärkt.
Es wird viel über den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in der Schweiz gesprochen. Kann visite diesen beheben?
Visite kann das Problem der qualifizierten Arbeitskräfte nicht lösen, trägt aber sicherlich seinen Teil dazu bei. Wenn das Visite-Programm dazu genutzt wird, junge Menschen in der Ausbildung zu ermutigen, einen Betrieb und einen Beruf zu wählen, der ihnen durch einen Austausch eine Weiterentwicklung ermöglicht, dann haben wir - in bescheidenem Masse - einen Beitrag geleistet. Ich erkläre es mir so: Wenn der Austausch klar als Ausbildungsabschnitt im Betrieb definiert ist und da er in der Regel im zweiten oder dritten Jahr stattfindet, ist es ein Anreiz, die Ausbildung bis zum Ende durchzuziehen.
Gibt es in der Romandie, die stärker auf das Studium ausgerichtet ist, mehr Anstrengungen?
Es gibt tatsächlich weniger Interesse seitens der Lehrlinge, in die Deutschschweiz zu gehen, als umgekehrt. Es ist anzunehmen, dass die Seeufer in der Romandie oder die Berge im Wallis für Jugendliche aus Zürich, Basel, Graubünden oder auch dem Tessin attraktiver sind.
Wie viele Rotary Clubs sind Mitglieder des Vereins?
Derzeit gibt es 63 Rotary Clubs, die Mitglieder sind. Die Zahl schwankt, ist aber relativ stabil. Natürlich begrüssen wir mit offenen Armen jeden Club, der bereit ist, sich an diesem Projekt zu beteiligen. Das Engagement für junge Berufstätige und insbesondere für Berufspraktika wird von Rotary getragen, aber nicht nur. Es kommt vor, dass ein Austausch komplett ausserhalb des rotarischen Netzwerks stattfindet.
Beteiligt sich auch der Bund?
Ja. Movetia, die nationale Agentur, die für die Förderung von Austausch und Mobilität zuständig ist, unterstützt alle Besuchsaustauschprogramme. Wir sind übrigens als Partner der nationalen Agentur anerkannt. Andere Stellen finanzieren visite, Rotary Schweiz-Liechtenstein, Clubs und Stiftungen wie die Oertli-, Margrith und Ruth Stellmacher-Stiftung. Wir können auch auf die Unterstützung des Kompetenzzentrums für technische Ausbildung der Services industriels de Lausanne C-FOR, der Regioncapitalesuisse, des Kantons Tessin und der Aktion Xchange, einer gemeinsamen Plattform der Schweiz und ihrer Nachbarländer, zählen
Emilie Pasquier, 19 Jahre alt, Lehrling als kaufmännische Angestellte beim Amt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen LVA des Kantons Freiburg, verbrachte den Monat April in Berlin. Nach ihrer Rückkehr von ihrem Aufenthalt in Deutschland berichtet sie begeistert von ihrer Erfahrung, die ihr noch mehr Lust gemacht hat, wieder auf Entdeckungsreise zu gehen:
«Seit meiner Kindheit liebe ich die deutsche Sprache und wollte sie schon immer lernen. Auch meine Eltern haben meine Brüder, meine Schwestern und mich motiviert, diese Sprache zu lernen. Bevor ich mit dem Lernen begonnen habe, bin ich ein Jahr lang als Au-pair-Mädchen zu einer Familie mit drei kleinen Kindern in den Thurgau gegangen. Ich glaube, ich mag die Herausforderung (lacht). Seit dieser Erfahrung habe ich davon geträumt, wieder auszuwandern, und als sich mir die Gelegenheit bot, habe ich nicht gezögert. Mein Chef ist Rotarier und er war es, der unserem HR-Manager von dem Besuchsprogramm erzählte.
In Berlin arbeitete ich vier Wochen lang an der Rezeption einer Sprachschule, der Victoria Academy of Language. Trotz des englischen Namens der Schule war die Arbeitssprache Deutsch. Ein Kollege stellte mir die Räumlichkeiten und das Team vor, und dann begann ich sofort mit der Arbeit. Ich bearbeitete Post, schrieb E-Mails und bereitete Rechnungen vor. In der letzten Woche konnte ich dann vormittags an einem Sprachkurs teilnehmen.
Ich wohnte in einer Einzimmerwohnung bei tollen Leuten im Norden Berlins, etwa 30 Minuten von meiner Arbeitsstelle entfernt, was sehr praktisch war. Ich musste nicht einmal umsteigen. Die Besitzer des Studios waren sehr nett, sie integrierten mich und boten mir an, mit ihnen zu essen. Ansonsten war ich zum ersten Mal in meinem Leben ganz allein, und ich fand es toll! Ich komme aus einer grossen Familie und habe fünf Geschwister, daher war es sehr angenehm, allein in meiner Einzimmerwohnung zu sein. Gleichzeitig war es komisch, keine Geräusche mehr zu hören, ich brauchte ein paar Tage, um mich daran zu gewöhnen. Da meine Eltern Landwirte sind und nicht immer viel Zeit für uns hatten, haben wir schnell gelernt, uns selbst zu versorgen. Aber die Erfahrung in Berlin hat mein Selbstvertrauen noch mehr gestärkt, sie hat mich dazu gebracht, aus meiner Komfortzone herauszukommen.
Der Monat in Berlin ist wie im Flug vergangen! Es ist so gut gelaufen, dass ich motiviert bin, wieder zu gehen, die Reiselust ist sehr präsent. Ich ermutige jeden, sich auf einen Austausch einzulassen, denn die Entdeckung eines neuen Lebens und einer neuen Kultur ermöglicht es einem, sich wirklich weiterzuentwickeln. Und das Beste ist, dass ich durch meinen Aufenthalt in Berlin nicht nur meinen Wortschatz um spezifische Begriffe, die ich für meine Arbeit benötige, erweitern konnte, sondern die Kurse, die ich hatte, behandelten auch die Themen, die ich in den Abschlussprüfungen meiner Ausbildung haben werde. Das hat mir einen schönen Refresh beschert!»
Louis Dietlin, 19, Automatisierungslehrling bei den Services Industriels de Lausanne C-FOR, verbrachte im März und April fünf Wochen in Dublin. Für das Rotary Magazin Schweiz-Liechtenstein blickt er auf seine sublime irische Erfahrung zurück:
«Ich begann meinen Aufenthalt in Dublin mit einem einwöchigen Sprachkurs und lernte dann das kleine Familienunternehmen kennen, das in der Automatisierungstechnik tätig ist. Zunächst wurde ich mit einer eher administrativen Arbeit betraut – ich verstand, dass sie mich testen wollten, bevor sie mir eine Maschine anvertrauten, was natürlich ein Risiko sein kann. Da ich mich gut anstellte, wurde ich damit beauftragt, Schaltschränke für die grossen Maschinen, die das Unternehmen herstellt, zu bauen. Sie waren sehr zufrieden mit meiner Arbeit. Ich konnte ihnen sogar einige Dinge zeigen, vor allem auf technischer Ebene. Da habe ich gemerkt, dass die Ausbildung in der Schweiz wirklich sehr gründlich ist. Dieser Austausch hat vielleicht nicht viel zu meinen beruflichen Fähigkeiten beigetragen, dafür aber umso mehr auf sozialer Ebene. Ich habe mich an ihre Arbeitsweise angepasst und gelernt, mit den Menschen zu kommunizieren, die alle "sehr irisch" sind und mit einem sehr starken Akzent sprechen. Am Anfang war es wirklich nicht einfach, aber ich konnte mich verbessern.
Ich wohnte mit einem anderen Jugendlichen, der aus Italien gekommen war, bei einer sehr netten Gastfamilie. Um uns zu verstehen, waren wir gezwungen, uns auch auf Englisch auszutauschen. Meine Gastfamilie hatte alles gut organisiert, ich ass sehr gut, lernte Dublin kennen, das eine wunderschöne Stadt mit viel Kultur ist, und konnte auch Ausflüge ans Meer machen, die berühmten Klippen sehen und die Landschaft ist sehr schön.
Es war der Verein visite, der zu uns an unseren Arbeitsplatz in Lausanne kam, um uns das Austauschprogramm vorzustellen. Ich habe nicht gezögert, denn ich liebe Herausforderungen. Und was für ein Glück, dass mein Unternehmen damit einverstanden war, dass ich diesen Austausch mache, der zudem vom Bund subventioniert wird. Ich schickte also sofort meine Bewerbung ab. Ich war übrigens einer der wenigen. Was für ein Pech! Es geht wirklich nicht ums Geld. Ich habe verstanden, dass viele Jugendliche keine Lust haben, aus ihrer Routine auszubrechen. Dabei ist es so viel wert. Ich habe es geschafft, zum ersten Mal in meinem Leben alleine loszuziehen, ich habe meinen Weg gefunden und mich an alle Situationen angepasst, es war unglaublich. Eine erhabene Erfahrung, die mein Selbstvertrauen gestärkt hat.