In den USA wurde im Bundesstaat New York — nach fast zehn Jahren ohne Polio-Erkrankungen — ein Fall von Kinderlähmung gemeldet. Der Betroffene war nicht geimpft. Urs Herzog ist End-Polio-Now-Zonenkoordinator für die Zonen 15 und 16. Er gab eine kurze Einschätzung zur aktuellen Lage.
Die USA sind kein Entwicklungsland, dort gibt es ein hochspezialisiertes und effektives Gesundheitssystem. Muss dieser Fall aus den USA beunruhigen?
Nein, für mich ist er aber ein Zeichen, dass wir unsere Anstrengungen im Kampf gegen Polio verstärken müssen. Der genannte Fall ist dagegen ein spezieller: ein ungeimpfter Mann, der die Viren wahrscheinlich aus dem Ausland mitbrachte.
In England hat man kürzlich auch Polioviren im Abwasser nachgewiesen. Aber es kam zu keiner Erkrankung, weil die Situation eben schon vor einer Übertragung aufgefallen ist — durch Überwachung — und bekämpft werden konnte. Ähnlich war es auch schon in Genf vor etwa zehn Jahren. Dort war zusätzlich die Durchimpfungsrate sehr hoch und niemand erkrankte.
Wenn die Impfrate fällt, könnten solche Situationen zum Problem werden. Deshalb müssen wir hier wie anderswo dranbleiben und den Kampf gegen Polio weiterführen.
Der Blick auf die aktuelle Statistik zeigt auch neue Fälle in Afghanistan: zwölf allein in diesem Jahr — deutlich mehr als 2021. Verschlechtert sich die Situation in der Region?
Nein. Die Fälle in Afghanistan hängen mit den Abwässern zusammen, die zu einer so genannten Quartierinfektion geführt haben. Das heisst, Menschen aus dem gleichen Umfeld, die eng zusammenleben, haben sich infiziert. Das lässt sich aber gut eindämmen. In Pakistan hat sich die Situation von Testung, Impfung, Bekämpfung der Krankheit zuletzt sehr gebessert. Ich bin optimistisch, dass sich die Situation demnächst entspannt.
Nichtsdestotrotz müssen wir wachsam bleiben, denn auch in Mozambique tauchte ein Fall auf. Wahrscheinlich wurde er aus Pakistan eingeschleppt. Und gerade in Regionen, wo Impfkampagnen wegen kriegerischer Auseinandersetzungen schwierig sind, müssen wir wachsam bleiben.
Schaut man auf die Statistik, überraschen auch mehrere Dutzend impfinduzierter Polio-Fälle, zum Beispiel im Jemen, im Kongo oder in Nigeria. Kommt die Krankheit dort zurück?
Nein, diese Fälle wurden wohl durch die bisherigen Impfseren und deren Handhabung ausgelöst. Mike Mc Govern, PolioPlus-Chair bei Rotary International, berichtete kürzlich, dass die Impftrupps in diesen Ländern eher nachlässig tätig waren. Demnach sind Polio-Kampagnen abgesagt worden, Kontrollen unterblieben. Das hilft in der Gesamtsituation gar nicht, es macht auf längere Sicht Probleme.
Fachleute setzen aber inzwischen auf ein neues Serum, mit dem solche Fälle eingedämmt und verhindert werden können. Es ist extrem aktiv und verträglich. Es sollte impfinduzierten Fällen ein Ende bereiten.
Wie schätzen Sie also die Situation insgesamt ein?
Auch wenn die neuen Zahlen kritisch klingen, sind sie — aufs grosse Ganze gesehen — vernachlässigbar. Aber sie sind ein wichtiger Fingerzeig: «Bitte lasst nicht nach im Kampf gegen Polio! Wir riskieren hier neue Fälle!»
In Deutschland und Österreich sind mehrere zehntausend Bürger nicht geimpft. Wenn wir die Polio-Impfungen einstellen würden, könnte es in kürzester Zeit um die 700000 neue Polio-Fälle geben. Wollen wir das?
Es muss weitergehen. Und unsere Argumente haben immerhin auch die Taliban in Afghanistan überzeugt. Sie begleiten inzwischen auch rein weibliche Impfteams und stellen sicher, dass jedes Kind das Serum bekommt. Da geht es also voran.
Über all das werden wir auch zum Jahresende beim Rotary Institut in Basel sprechen, denn wir müssen das Wissen über Polio nutzen und weiterverbreiten. Wir dürfen die Anstrengungen, die Krankheit auszurotten, nicht einschlafen lassen!
Vielen Dank für die Einschätzung!