Wenn PDG Alois Grichting, ein Mann von 91 Jahren, über seine grösste Leidenschaft spricht, das Walliserdeutsch, dann strahlen seine Augen. Er ist weit mehr als nur ein Sammler von Wörtern. In ihm steckt der unermüdliche Wille, eine Mundart am Leben zu erhalten, die seit Generationen die Identität der Walliser prägt.
Seit fast vier Jahrzehnten widmet sich der Rotarier, er ist Mitglied im RC Brig, der Erfassung und Bewahrung dieser sprachlichen Schätze, und das Ergebnis ist eine bemerkenswerte Sammlung von Wörtern, die in seinen beiden Bänden «Wallissertitschi Weerter» zusammengeführt wurden.
«Es gibt Wörter, die nicht einmal Google kennt», sagt Grichting schmunzelnd. Da ist zum Beispiel «Tannupägger», ein alter Ausdruck für Spechte. Solche Begriffe – und es gibt Tausende davon – sind mehr als blosse linguistische Kuriositäten. Sie tragen Geschichten in sich, Erinnerungen an eine Zeit, als das Leben im Wallis noch langsamer und enger mit der Natur verwoben war. Begriffe wie «Goldgüege» (Marienkäfer) oder «Pfiffoltra» (Schmetterling) klingen nicht nur wunderschön, sie beschreiben auch eine Welt, die zu verschwinden droht, wenn sie nicht erhalten wird.
Die Entstehung eines Wörterbuchs
Alois Grichtings Liebe zur Sprache begann in seiner Kindheit. 1933 in Agarn/Leuk im Wallis geboren, wuchs er in einer 13-köpfigen Familie auf, die ihren Lebensunterhalt auch in der Landwirtschaft bestritt. Diese frühen Erfahrungen prägten ihn tief, und schon als Kind las er alles, was ihm in die Hände kam. Später entdeckte er seine Begeisterung für Latein, für Griechisch und deutsche Klassiker wie Goethe und Rilke. Doch die wahre Faszination lag für ihn immer in der Sprache seiner Heimat.
Bereits in den 1980er Jahren begann Grichting, Wortlisten auf dem ersten Computer des Kollegiums in Brig zu digitalisieren, wo er als Lehrer für Mathematik, Physik und Informatik unterrichtete. Seine Schüler, darunter prominente Persönlichkeiten wie Bundesrätin Viola Amherd, Ständerat Beat Rieder oder die Walliser Staatsräte Roberto Schmidt und Franz Ruppen, ahnten wohl kaum, dass ihr Lehrer nebenbei eine Sprachschatztruhe öffnete, die die Kultur des Wallis für die Nachwelt bewahren würde. 1998 veröffentlichte er den ersten Band seines Walliser Wörterbuchs. Der Erfolg war überwältigend, und Grichting begann sofort mit den Arbeiten am zweiten Band.
Die Fertigstellung des zweiten Bandes liess indes lange auf sich warten – ganze 24 Jahre. Doch Grichtings Geduld und Liebe zur Sache liessen ihn nicht aufgeben. «Die Pandemie hat mich angguraschiert», sagt er mit typischer Walliser Nüchternheit. Während der Corona-Zeit wurde ihm bewusst, dass er seine Arbeit vollenden musste, bevor das Virus ihm einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Also machte er sich an den Endspurt und schloss den zweiten Band im Sommer 2022 ab – ein wahres Mammutprojekt, das ihm viel abverlangte.
«Ich bin an meine Grenzen gestossen», gesteht Grichting offen. Die Korrekturarbeiten waren mühsam, jedes Komma, jeder Strichpunkt musste genau geprüft werden. Seine lange Lehrerfahrung als Mathematiker und Physiker half ihm da nur bedingt. Doch der Stolz, den er dabei empfindet, ist unübersehbar. «Är isch e Schuzz derhinner gsi», sagt er mit einem Augenzwinkern – ein schöner Ausdruck für «er war eine Weile damit beschäftigt», typisch Walliserisch eben.
Einige der gesammelten Wörter sind für Aussenstehende kaum verständlich. Begriffe wie «Härdibulljo!» (ein überraschender Ausruf) oder «Ggaaggu» (Rabe) zeigen, wie einzigartig diese Sprache ist. Walliserdeutsch zeichnet sich nicht nur durch seine spezifischen Vokabeln aus, sondern auch durch die Art, wie die Wörter klingen. «Es ist eine Klangsprache», erklärt Grichting. «Man muss die Wörter laut aussprechen, um ihre volle Bedeutung zu erfassen.» Diese Betonung der Aussprache ist zentral für die Mundart, und Grichting empfiehlt jedem, die Wörter laut zu lesen – «Tüä lüüt läsu», wie es im Wallis heisst.
Die kulturelle Bedeutung des Walliserdeutschs
Für Grichting ist die Sprache weit mehr als nur ein Kommunikationsmittel – sie ist ein Schatz, der das kulturelle Erbe des Wallis bewahrt. Und sie ist eng mit den Menschen und der Geschichte des Wallis verknüpft. Die Wörter, die Grichting in seinen Büchern festgehalten hat, erzählen von einer Zeit, in der das Leben langsamer und intensiver war. Sie sind ein Spiegel der Landschaft, der Berge, der Täler und des harten Alltags, den die Menschen hier führten. Walliserdeutsch spiegelt das abgeschiedene Leben in den Bergen wider, die Isolation, die die Dörfer über Jahrhunderte prägte, und die enge Verbundenheit mit der Natur. Diese Mundart hat sich in abgelegenen Tälern entwickelt, wo der Einfluss von aussen gering war, und steckt daher bis heute voller einzigartiger Ausdrücke und Wörter.
In seinen Büchern beschreibt Grichting die Einflüsse, die das Walliserdeutsch im Laufe der Jahrhunderte aufgenommen hat. Besonders stark ist der französische Einfluss in Gegenden wie Salgesch und Glarey zu spüren, wo Wörter wie «Porätsch» (Lauchstengel) und «trawallju» (arbeiten) zeigen, wie eng die Verbindung zur französischen Sprache ist. Trotz dieser Einflüsse bleibt das Walliserdeutsch in seiner Essenz eine eigenständige Sprache.
Die Zeiten ändern sich, und mit ihnen auch die Sprache. Grichting sieht mit einem lachenden und einem weinenden Auge, wie die Mobilität und der technische Fortschritt die regionalen Unterschiede verwischen. «Die Mobilität lässt heute regionale Unterschiede vermehrt verschwinden», erklärt er. Umso wichtiger ist es ihm, die alten Ausdrücke zu bewahren, bevor sie in Vergessenheit geraten. Seine Wörterbücher sind ein Schlüssel zu einer Welt, die immer mehr verblasst, doch durch seine Arbeit für kommende Generationen zugänglich bleibt. Die Pflege dieser Sprache ist für den leidenschaftlichen Rotarier nicht nur eine Frage der Nostalgie. Sie ist eine Aufgabe, die für die Identität des Wallis von zentraler Bedeutung ist. «Unsere Sprache zeigt, wer wir sind und woher wir kommen», sagt er. «Wenn wir sie verlieren, verlieren wir einen Teil unserer Geschichte.»
Trotz aller Bemühungen, das Walliserdeutsch zu bewahren, ist Grichting sich der Herausforderungen bewusst. Die Sprache ist ständig im Wandel, und moderne Einflüsse verändern sie stetig. Besonders in den grösseren Städten des Wallis, wie Brig oder Visp, geht der Dialekt langsam verloren. «Es ist eine natürliche Entwicklung, aber es ist auch eine Gefahr für die Vielfalt unserer Sprache.»
Doch Grichting sieht auch positive Entwicklungen. Serien wie „»Tschugger», die den Walliser Dialekt einem breiten Publikum zugänglich machen, oder die prominente Präsenz von Walliser Persönlichkeiten im Fernsehen, wie Rainer Maria Salzgeber und Stefanie Heinzmann, tragen dazu bei, dass die Sprache wieder mehr Anerkennung findet. «Es ist schön zu sehen, dass unsere Mundart nicht nur überlebt, sondern auch blüht», so Grichting.
Vom Papier in die digitale Welt
Ein besonderes Highlight seiner Arbeit ist die Integration des Walliser Wörterbuchs in die digitale Welt. Seit einigen Jahren ist Grichtings Sammlung in der App des «Walliser Boten» verfügbar, sodass Leser und Leserinnen jederzeit auf die gesammelten Wörter zugreifen können. Die Technologie ermöglicht es, Mundartwörter wie «habru» (Hafer füttern oder im übertragenen Sinne essen), aber auch schriftdeutsche Wörter wie «Eidechse» einzugeben. Für Grichting, der sich selbst als «ewigen Studenten» bezeichnet, ist dies eine besondere Freude: «Es ist ein schönes Gefühl, zu wissen, dass meine Arbeit im digitalen Zeitalter angekommen ist.»
«Die Digitalisierung ist ein wichtiger Schritt, um die Sprache für zukünftige Generationen zu bewahren», sagt Grichting. «Und es freut mich, dass meine Arbeit nun auf diesem Weg fortgeführt wird.» Die App hat bereits internationale Aufmerksamkeit erregt, besonders in den Walser-Gemeinschaften in Argentinien, wo Nachkommen von Auswanderern bis heute ihre Verbindung zum Wallis über die Sprache aufrechterhalten
Ein Leben für die Sprache
Alois Grichting hat in seinem Leben mehr als 30 Bücher geschrieben, meist mit lokalem Bezug. Er war Präsident mehrerer Vereine, darunter der Vortragsverein Brig, amtete als rotarischer Governor des Distrikts 1990 und erhielt 2006 den Oberwalliser Kulturpreis. Trotz all seiner Erfolge bleibt er bescheiden. «Ich habe fast keine Zeit», scherzt er oft, obwohl er seit dem Tod seiner Frau im Jahr 2014 auch Momente der Einsamkeit erlebt. Die klassische Musik ist ihm in dieser Zeit noch wichtiger geworden, ebenso wie seine unerschöpfliche Neugier auf die Welt und ihre Sprachen.
Für Grichting ist das Werk noch nicht abgeschlossen. Seine Sammlung wächst weiter, und auch die Leser können dazu beitragen, indem sie der App des «Walliser Boten» neue Begriffe hinzufügen. So lebt die Sprache weiter – und mit ihr das Vermächtnis eines Mannes, der sein Leben auch der Erhaltung des Walliserdeutschen gewidmet hat.
Zur Person
PDG Alois Grichting, 1933 im Wallis als eines von elf Kindern geboren, studierte an der ETH Zürich Elektrotechnik, ehe er an der Universität Freiburg zum Thema «Economies of scale» promovierte. Insgesamt 33 Jahre lang war Grichting mit grossem Eifer als Lehrer am Gymnasium tätig. Seit 1973 Mitglied im RC Brig, blickt er auch rotarisch auf eine bemerkenswerte Karriere zurück: Im Jahr 2002/03 stand Alois Grichting als Governor dem Distikt 1990 vor, seine Amtskollegen in den beiden anderen Distrikten waren Remo Hediger (D 2000) und Simon Küchler (D 1980). Als grosser Vorkämpfer des Walliserdeutschen, hat er nicht nur Bücher verfasst, sondern füllt seit 1985 jeden Monat die Kolumne «ÜBRIGENS» und eine Mundartseite im Walliser Boten.