Eine Bibliothek für alle

miðvikudagur, 14. ágúst 2024

Rot. Klaus-Dieter Lehmann

Die Zusammenführung der Deutschen Bücherei in Leipzig und der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main zur Nationalbibliothek gilt bis heute als leuchtendes Beispiel für die gelungene Wiedervereinigung.

Als ich im Mai 1988 Generaldirektor der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main wurde, wusste ich nicht, wie sehr die Zeitgeschichte Teil meiner persönlichen Geschichte werden sollte. Schon ein Jahr später begann die Friedliche Revolution mit den Montagsdemonstrationen in der DDR, im November 1989 fiel die Mauer, und mit dem 3. Oktober 1990 war die Wiedervereinigung Deutschlands politisch vollzogen.

Meine erste Dienstreise hatte mich im Juli 1988 in die Deutsche Bücherei nach Leipzig geführt. Die Deutsche Bücherei, gegründet 1912, und die Deutsche Bibliothek, gegründet 1947, spiegelten das geteilte Deutschland wider. Beide waren zuständig für das Sammeln der gesamten deutschsprachigen Literatur und für ihre bibliografische Verzeichnung. In der Zeit der deutschen Teilung lieferte ein grosser Teil der westdeutschen Verleger auch weiterhin die Belegexemplare nach Leipzig. Die Deutsche Bücherei war so etwas wie ein Loch in der Mauer. Ich wollte diese Trennung durch Arbeitskontakte lockern. Es kam tatsächlich zu Absprachen für ein Arbeitsprogramm.

Dann überrollten uns die politischen Ereignisse des Jahres 1989. Aus den ursprünglichen kleinen Schritten wurde der erklärte Wille für eine gemeinsame Zukunft. Wir waren der Überzeugung, dass die Wiedervereinigung nicht nur eine ökonomische Komponente hat, sondern ein kulturelles Ereignis ist. Ohne die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Kultur und Geschichte wäre sie nicht so machtvoll und friedlich verlaufen.

Doppelstrukturen mussten vermieden werde

Wir bildeten sofort gemeinsame Arbeitsgruppen und verabredeten eine abgestimmte Vorgehensweise. Wir wussten, dass bei zwei gleichartigen Einrichtungen die Gefahr besteht, dass eine davon abgewickelt wird. Wir mussten deshalb ein Konzept entwickeln, das sich wirtschaftlich und logisch darstellen lässt und nicht als «Schutzreservat» angreifbar ist. Schon im Januar 1990 war dieses Konzept in den Grundzügen fertig. Wir hatten bei allen Unsicherheiten eine Gewissheit. Wir waren Fachleute, die mit ihrer Kompetenz und Erfahrung ein Zukunftsmodell legitimieren konnten. Wir mussten das Feld nicht der Politik überlassen, sondern konnten die Dinge selbst in die Hand nehmen.

Sehr schnell zeigte sich, dass der Erhalt der beiden Standorte in Frankfurt und Leipzig ein kulturpolitisches Ziel sein konnte, wenn die Strukturen der Erwerbung, der bibliografischen Verzeichnung, der IT-Ausstattung und der Werkstätten Doppelarbeit konsequent vermeidet. Das konnte erreicht werden. Von Anfang an wurde darauf geachtet, dass die Ergebnisse der Arbeitsgruppen in Personalversammlungen vorgestellt und diskutiert wurden, um für die Veränderungen eine entsprechende Akzeptanz zu erreichen.

Stabil nach innen, überzeugend nach aussen

Es ging bei diesem Prozess nicht nur um Strukturen, um juristische oder organisatorische Fragen, denn durch die Wiedervereinigung wurden in der ehemaligen DDR die persönlichen Lebensverhältnisse in vielen Bereichen neu definiert. Zu unterschiedlich waren die Biografien verlaufen, zu unsicher waren deshalb die künftigen Veränderungen, zu unmittelbar die persönlichen Auswirkungen. Es gab viele Ängste unter den Leipziger Kolleginnen und Kollegen, denn ringsum brachen immer wieder Strukturen weg. Das nährte Befürchtungen, es könne auch der Bibliothek passieren. Aber letztlich waren die Offenheit des Veränderungsprozesses und das Zutrauen in die Fähigkeit der Kolleginnen und Kollegen in Leipzig und Frankfurt stabilisierend. Neben dem enormen Arbeitspensum hat die intensive Vermittlungsarbeit viel Kraft gekostet, aber sie hat auch Kraft gegeben. Für mich waren diese Fragen des menschlichen Umgangs nicht fremd. Meine Familie war getrennt wie das Land. In Breslau geboren, wuchs ich nach Kriegsende in Westdeutschland auf. Ein Teil meiner Familie fand ein neues Zuhause in Leipzig. Ich bin in Leipzig als Junge immer wieder in den Sommerferien gewesen, später regelmässig zur Leipziger Buchmesse. So habe ich beide Seiten kennengelernt

Für mich war es deshalb eine besondere Verpflichtung, den jeweiligen Verhältnissen gerecht zu werden und Vertrauen zu schaffen. Dazu gehörte auch, dass ich in dieser Aufbauzeit in Leipzig lebte und für die neuen Kollegen immer präsent war. Mit der Stabilisierung nach innen war es nicht getan. Es musste auch Überzeugungsarbeit nach aussen geleistet werden. Wir mussten uns auch den Argumenten der Öffentlichkeit und der Politik stellen.

Wichtige Verbündete bei der Akzeptanz in der öffentlichen Wahrnehmung waren für uns die Verleger und Buchhändler. Beide Bibliotheken waren ursprünglich aufgrund verlegerischer Initiativen gegründet worden. Sie machten sich jetzt zum Fürsprecher des Vereinigungskonzepts, dem sie im März 1990 bei den Wiesbadener Buchhändlertagen zustimmten. Das gab den nötigen Schwung für die politische Umsetzung. Die vereinigten Bibliotheken erhielten im Verlauf der Verhandlungen ein ausformuliertes Kapitel im Einigungsvertrag. Mit dem 3. Oktober 1990 waren sie eine bundesunmittelbare Anstalt des öffentlichen Rechts und in vollem Umfang handlungsfähig. Im Januar 1991, drei Monate nach der Wiedervereinigung, erschien das erste Verzeichnis der gemeinsamen Nationalbibliografie. Die vereinigte Bibliothek mit den Standorten Leipzig und Frankfurt trägt inzwischen den Namen «Deutsche Nationalbibliothek».

Plötzlich Teil eines internationalen Netzwerks

Auf dieser Grundlage konnte die komplette Renovierung des eleganten Jugendstilbaus in Leipzig vollendet werden und ein Erweiterungsbau, insbesondere für das Buch- und Schriftmuseum und das Deutsche Musikarchiv, errichtet werden. Inzwischen läuft ein internationaler Architektenwettbewerb für ein weiteres Magazingebäude, das 2030 in Betrieb genommen werden soll. Für die Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt wurde bereits 1996 der Neubau in Betrieb genommen. Neben den baulichen Voraussetzungen wurden die mit der Vereinigung getroffenen Entscheidungen für eine leistungsfähige digitale Netzstruktur auf den neuesten Stand gebracht. Damit ist die Deutsche Nationalbibliothek in der Lage, ausser den Druckwerken auch die digitalen Publikationen für die Zukunft zu sammeln und verfügbar zu halten.

Zur gleichen Zeit mit der Deutschen Nationalbibliothek entstanden weitere europäische Nationalbibliotheksbauten in Paris, London und Kopenhagen. Das befähigte die Deutsche Nationalbibliothek nicht nur dazu, ihr deutsches Aufgabenspektrum auszufüllen, sondern auch eine aktive Rolle in der europäischen Vernetzung und im internationalen Datentausch wahrzunehmen. Damit konnte sie aktiv an einem internationalen Netzwerk mitwirken, das für den freien und ungehinderten Zugang zum Wissen stand. 35 Jahre nach dem Fall der Mauer bestätigt sich in besonderer Weise, wie wichtig die kulturpolitischen und bildungspolitischen Argumente für das Zukunftskonzept der Deutschen Nationalbibliothek waren.

 

Zur Person

Prof. Dr. Klaus-Dieter Lehmann, RC Berlin, war bis 2020 Präsident des Goethe-Instituts. 1988 wurde er Generaldirektor der Deutschen Bibliothek in Frankfurt/Main. Nach der Wiedervereinigung führte er die Deutsche Bibliothek in Frankfurt und die Deutsche Bücherei in Leipzig sowie das Deutsche Musikarchiv Berlin zusammen. 1998 folgte er dem Ruf nach Berlin als Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.


Rot. Klaus-Dieter Lehmann