Schweizer Neutralität im Wandel der Zeit

miðvikudagur, 14. febrúar 2024

Rot. Christian Ruch

Wer sich intensiver mit der Geschichte der Schweizer Neutralität beschäftigt, stellt fest, dass sie noch nicht so alt ist, wie man meint oder es gerne hätte. Die ersten Jahrhunderte dieses in Europa einzigartigen Bündnisses waren durchaus gewalttätig, wie Rot. Christian Ruch schreibt. Der Historiker und Soziologe nimmt uns mit auf eine Reise zurück in die Geschichte der Neutralität.

Neutralität verstanden als «Nichtbeteiligung eines Staats an einem Krieg anderer Staaten» gemäss der Definition des «Historischen Lexikons der Schweiz», ist nichts, was die Eidgenossenschaft von Anfang an ausgezeichnet hätte. Ganz im Gegenteil: Die ersten Jahrhunderte dieses in Europa einzigartigen Bündnisses waren durchaus gewalttätig. Die Eidgenossenschaft beteiligte sich nicht nur an den Kriegen fremder Mächte, sondern handelte auch auf eigene Faust militärisch, und dies nicht nur in defensiver Absicht. Was jedoch fehlte, war eine kohärente Aussenpolitik als gemeinsames Projekt, so dass sich die Interessen teils widersprachen, schon weil die einzelnen Stände sich mitunter misstrauisch und eifersüchtig beäugten. Ging es gegen Habsburger, Mailänder und Burgunder, war man sich, was das Militärische anging, schnell einig und zog frohgemut in die Schlacht. Weil aber eben eine abgestimmte Aussenpolitik fehlte, liessen sich militärische Siege oft nicht in dauerhaften politischen Erfolg ummünzen. Mit der Niederlage in der Schlacht von Marignano am 13./14. September 1515, hatte sich ohnehin gezeigt, dass dem militärischen Potenzial Grenzen gesetzt waren. Mehr Erfolg hatten die Eidgenossen mit Friedensschlüssen, die ihre Existenz als losen Staatenbund auf lange Sicht sicherten, so etwa mit den Habsburgern im Jahre 1511 und Frankreich fünf Jahre später.

Verklärte Geburtsstunde

Dennoch wurde das Desaster von Marignano später zur Geburtsstunde der Schweizer Neutralität verklärt, als sei die Niederlage sozusagen ein heilsamer Schock gewesen, der die Eidgenossen gelehrt habe, es nicht zu toll zu treiben. Garniert wurde dieser Mythos noch mit zwei Zitaten des Nationalheiligen Niklaus von Flüe: «Mischt euch nicht in fremde Händel» und «Machet den Zaun nicht zu weit». Beide Zitate wurden dem Heiligen aus der Ranft allerdings erst posthum angedichtet. Wann aber war die Geburtsstunde der Schweizer Neutralität? Ich möchte die These vertreten, dass wir sie dem Dreissigjährigen Krieg zwischen 1618 und 1648 verdanken. Dieser Konflikt, der weite Teile Mitteleuropas und vor allem Deutschland ins Elend stürzte, war ja auch konfessioneller Natur, also sehr vereinfacht gesagt eine Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Protestanten. Die Eidgenossenschaft hatte es jedoch im 16. Jahrhundert geschafft, ihren Bund trotz konfessioneller Unterschiede und Konflikte am Leben zu erhalten. Wenn man sieht, wie Religion heute noch als Brandbeschleuniger politische Konflikte eskalieren lassen kann, sollte man aus heutiger Perspektive die trotz Glaubensspaltung geglückte Bewahrung der Eidgenossenschaft mit Hochachtung zur Kenntnis nehmen – für mich ist dies eine der grössten Leistungen in der Schweizer Geschichte, auch wenn uns Konkordanz, Konsens und Kompromiss als Preis dafür heute manchmal langweilig vorkommen mögen.

Vom Westfälischen Frieden…

Jedenfalls erkannten die Eidgenossen angesichts des Mordens und Brennens jenseits des Rheins, dass es ein Gebot der Vernunft und Klugheit war, sich nicht auf die eine oder andere Seite ziehen und so auseinander dividieren oder gar in Kämpfe verwickeln zu lassen. Und das zahlte sich aus: Der Westfälsche Friede, der dem Dreissigjährigen Krieg ein Ende setzte, erlaubte es der Eidgenossenschaft nun auch de jure das Reich zu verlassen, nachdem sie de facto schon seit dem 15./16. Jahrhundert weitgehend unabhängig war. Gerade weil die Schweiz sich neutral verhalten hatte, wollten weder Franzosen noch Habsburger, dass sich daran zugunsten des anderen Lagers etwas änderte, weswegen beide Grossmächte dem Ausscheiden aus dem Reich zustimmten. Die Eidgenossenschaft hatte also allen Grund, sich weiterhin neutral zu verhalten und deklarierte dies erstmals offiziell im Jahre 1674, als sie festhielt, «dass wir uns als ein Neutral Standt halten und wohl versorgen wollen und sollen, dass wir uns Keinestheils soweit einmischen, dadurch wir uns auch in den Krieg einwickhlen könndten». Allerdings standen Schweizer Männer weiterhin in den Solddiensten fremder Mächte, verhielten sich also alles andere als neutral, dennoch wurde die Neutralität der Eidgenossenschaft nicht so weit in Frage gestellt, als dass man sie an den Königshöfen Europas nicht respektiert hätte.

… zum Wiener Kongress

Dies änderte sich Ende des 18. Jahrhunderts mit den Kriegszügen des revolutionären Frankreichs. Der junge General Napoleon Bonaparte hatte schon aus militärisch-strategischen Gründen keinen Sinn für die Neutralität der Schweiz. Die von Frankreich im April 1798 aufoktroyierte Helvetische Republik hatte keinerlei aussenpolitische Bewegungsfreiheit und musste ausserdem für die Feldzüge Napoleons Soldaten stellen. Mit der Mediationsakte von 1803 endete zwar das Intermezzo der Helvetischen Republik, doch die neue Eidgenossenschaft war immer noch ein französischer Satellit. Napoleon betonte zwar, dass die Schweiz neutral sei, hatte aber an einer selbstbewussten, souverän gestalteten Neutralität kein Interesse. Sie kam erst wieder auf die Tagesordnung, als Napoleon gestürzt war und die Siegermächte auf dem Wiener Kongress 1814/15 daran gingen, die Verhältnisse neu zu ordnen. Wie schon beim Westfälischen Frieden ging die Schweiz aus den Verhandlungen aussenpolitisch gestärkt hervor und auch aus neutralitätspolitischer Sicht konnte die Eidgenossenschaft mit dem Wiener Kongress mehr als zufrieden sein. Denn nach einigem Hin und Her garantierten die Grossmächte der Schweiz am 20. November 1815 eine «immerwährende Neutralität».

Die Krise des 2. Weltkriegs

In Gefahr geriet diese Übereinkunft im 20. Jahrhundert mit der Machtübernahme Hitlers und Mussolinis: Beide Diktatoren verachteten die Neutralität der Schweiz, ja das ganze Konzept der auf Konsens, Konkordanz und Kompromiss fussenden Schweizer Willensnation, die dem auf Kampf, Nation und Rasse gründenden Faschismus und Nationalsozialismus diametral entgegengesetzt war. Gleichzeitig betonten jedoch sowohl Hitler als auch Mussolini immer wieder öffentlich, die Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz wahren zu wollen, was die Schweizer Diplomatie in grosse Unsicherheit und Ratlosigkeit stürzte. Immerhin war man nach der deutschen Annexion Österreichs und der Zerschlagung der Tschechoslowakei so klug, Hitlers heuchlerischen Friedensbekundungen keinen Glauben mehr zu schenken und so war die Schweiz auf den Zweiten Weltkrieg vor allem versorgungstechnisch weitaus besser vorbereitet als 1914. Einen Tag vor dem deutschen Überfall auf Polen proklamierte die Eidgenossenschaft wie schon beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs ihre Neutralität. Doch was die Hitler wert war, zeigte sich am 9. April 1940 mit dem deutschen Überfall auf die neutralen Länder Dänemark und Norwegen und rund einen Monat später mit der Invasion in die ebenso neutralen Benelux-Staaten als Auftakt zum Frankreich-Feldzug. Dass die Grande Nation innerhalb weniger Wochen kläglich kapitulierte, versetzte den Grossteil der Schweizer Bevölkerung in eine Art Schock und tiefe Depression. Die Neutralität befand sich jetzt in ihrer vielleicht schwersten Krise seit Bestehen der Eidgenossenschaft, denn man war einsame Insel in einem faschistisch-nationalsozialistisch beherrschten Kontinentaleuropa. Neutralität hiess deshalb jetzt für die Aussenpolitik Berns vor allem, nur ja alles zu unterlassen, was Hitler reizen könnte. Eine von der Armee ausgeübte Medienzensur bemächtigte sich vor allem der Berichte und Kommentare, die sich allzu kritisch zu Hitler und Mussolini äusserten. Diese doch etwas sehr einseitige Neutralität blieb den Alliierten natürlich nicht verborgen und wurde von ihnen dementsprechend kritisiert. Aus Schweizer Sicht ging die Rechnung jedoch wie schon während des Ersten Weltkriegs auf: Die neutrale Schweiz, in der man, wie es ein Witz formulierte, an sechs Tagen für Nazi-Deutschland produzierte und am siebten Tag für den Sieg der Alliierten betete, war für Hitler mit ihren von Bombardierungen verschonten Fabriken und Eisenbahntransversalen, dem Strom, den sie wichtigen süddeutschen Fabriken lieferte, und den Banken, die sie zur Verfügung stellte, ganz schlicht und einfach nützlicher, als wenn die Wehrmacht das Land besetzt hätte.

Schweiz im Dilemma

Hitler hätte den Einmarsch in die Schweiz wohl befohlen, wenn es ihm opportun erschienen wäre, das beweist die erst 1944 erfolgte Besetzung Ungarns. Problematisch wurde die auf Deutschland Rücksicht nehmende Neutralität mit der Invasion der amerikanischen und britischen Streitkräfte im Juli 1943 auf Sizilien und dem Aufbrechen der von Deutschland und Italien beherrschten «Festung Europa». Jetzt befand sich die Schweiz neutralitätspolitisch in einem Dilemma: Einerseits zeichnete sich immer deutlicher ein Sieg der Alliierten ab, andererseits befand man sich weiterhin im Würgegriff der Achsenmächte Deutschland und Italien, weil die Schweiz beispielsweise bei der Einfuhr von Kohle völlig auf das Wohlwollen des NS-Regimes angewiesen war. Für die Armee hiess das, weiterhin eine absolute, kompromisslose Neutralität zu praktizieren, was beispielsweise bedeutete, dass die Schweizer Flugabwehr auf US-Bomber schoss, wenn sie, ob aus Versehen oder nicht, in den Schweizer Luftraum eindrangen. In der Bevölkerung stiess dies auf grosses Unverständnis und Kritik, denn man sah in den amerikanischen Bombergeschwadern nicht in erster Linie eine zu ahndende Neutralitätsverletzung, sondern die Hoffnung auf Befreiung Europas vom Nazi-Terror. Unmittelbar nach Kriegsende galt die Schweizer Neutralität im Ausland angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen als etwas Unmoralisches. Doch das änderte sich mit dem Zerfall der alliierten Allianz und dem Heraufdämmern des Kalten Krieges Ende der 1940er-Jahre. Dass sich Österreich 1955 nach Schweizer Vorbild für neutral erklärte, bewies, dass das Schweizer Neutralitätsverständnis wohl doch nicht so aus der Zeit gefallen war.

Neutralität in der Sinnkrise

Während des Kalten Krieges zelebrierte die Schweiz eine aufgrund der positiven Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs übersteigerte, mythisch überhöhte, aber durchaus demokratisch legitimierte, da von einer sehr grossen Mehrheit der Bevölkerung mitgetragene Neutralität. Sie liess die Schweiz der Europäischen Gemeinschaft ebenso fernbleiben wie der UNO. Allerdings ermöglichte es die Neutralität, sich als Vermittler in Konfliktlagen nützlich zu machen. Auf Schweizer Boden fanden wichtige Konferenzen und Gespräche statt, so etwa das Gipfeltreffen zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow im Jahre 1985 in Genf. Dass der Kalte Krieg 1989/90 für die allermeisten völlig überraschend zu Ende ging, erwischte auch die Schweiz auf dem falschen Fuss. Das Ende der Konfrontation stürzte sie in eine Art Sinnkrise, denn wozu brauchte es nun noch eine Neutralität à la suisse? Sollte man sie abschaffen? Oder transformieren? Darüber wurde in den 1990er-Jahre intensiv diskutiert, auch und gerade mit Blick auf die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, deren Neutralität von linker Seite als „Selbstbetrug“ gebrandmarkt, von rechtsbürgerlicher Seite dafür umso glühender verteidigt wurde, so etwa als es 1992 darum ging, den Beitritt der Schweiz zum EWR zu verhindern, was bekanntlich auch gelang. Der Beitritt zur UNO wurde zehn Jahre später zwar an der Urne gutgeheissen, dies aber nicht mit einem Glanzresultat. Denjenigen, die Neutralität als etwas Antiquiertes betrachteten, schien sie schon deshalb obsolet, weil grössere zwischenstaatliche Kriege, zumindest in Europa, undenkbar schienen. Doch das vermeintliche Glück des «Posthistoire» erwies sich als trügerisches Intermezzo, das bereits am 11. September 2001 endete. Und mit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 trat etwas ein, das nach den friedlichen Umwälzungen 1989/90 kaum jemand für möglich gehalten hatte. Dass die Schweiz der Ukraine grosszügige humanitäre Hilfe leistete und Flüchtlinge aufnahm, überraschte dabei weniger als die Übernahme der westlichen Sanktionen gegen Russland. Denn bis heute ist eigentlich nicht geklärt, was Neutralität auch und gerade im Konfliktfall und angesichts eines brutalen Regimes wie in Moskau konkret heisst.

Sagen, was gesagt werden muss

Wie sieht nun das Fazit aus? Hat sich die Neutralität bewährt? Meine Antwort: Kommt darauf an, wen man fragt. Aus Schweizer Sicht ist man mit der Neutralität sicher sehr gut gefahren, denn ein kleines Land in aussenpolitische Abenteuer oder Kriege zu verwickeln, ist sicher keine gute Idee. Vergessen wir nicht, dass seit Beginn des 19. Jahrhunderts keine ausländische Armee mehr zu Kriegszwecken Schweizer Boden betreten hat, wir also seit mehr als 220 Jahren Frieden haben. Doch machen wir uns nichts vor: Ausserhalb der Schweiz ist deren Neutralität längst nicht so ein hehres Ideal, wie es ihre Verfechter gerne hätten, sondern erscheint bisweilen als Alibi für Rosinenpickerei und Geschäftemacherei bar jeglicher Moral. Es ist schon deshalb aus meiner Sicht dringend geboten, Neutralität so zu verstehen und zu praktizieren, dass die Schweiz Kriegsverbrechen und Völkermord und die dafür Verantwortlichen ohne neutralitätspolitische Ausflüchte benennt und auch dementsprechend handelt. Lassen wir also bitte Neutralität nicht zum Synonym für Feigheit werden.

Zur Person: Christian Ruch ist Dr. phil. und tätig als freischaffender Historiker, Soziologe und Journalist. Seine neuste Publikation ist das Buch «Graubünden und der Zweite Weltkrieg. Alltag im Ausnahmezustand» (Verlag Hier und Jetzt, ZH). Ausserdem ist Ruch Co-Autor der Nordkap-Sarganserland-Krimis «Venner» und «Mørk» (driftwood-Verlag, Chur).

Der Rotarier Christian Ruch ist Historiker, Soziologe und Buchautor. Foto: zvg.