Wer sich intensiver mit der Geschichte der
Schweizer Neutralität beschäftigt, stellt fest, dass sie noch nicht so alt ist,
wie man meint oder es gerne hätte. Die ersten Jahrhunderte dieses in Europa einzigartigen
Bündnisses waren durchaus gewalttätig, wie Rot. Christian Ruch schreibt. Der
Historiker und Soziologe nimmt uns mit auf eine Reise zurück in die Geschichte der
Neutralität.
Neutralität verstanden als «Nichtbeteiligung
eines Staats an einem Krieg anderer Staaten» gemäss der Definition des «Historischen
Lexikons der Schweiz», ist nichts, was die Eidgenossenschaft von Anfang an
ausgezeichnet hätte. Ganz im Gegenteil: Die ersten Jahrhunderte dieses in
Europa einzigartigen Bündnisses waren durchaus gewalttätig. Die
Eidgenossenschaft beteiligte sich nicht nur an den Kriegen fremder Mächte,
sondern handelte auch auf eigene Faust militärisch, und dies nicht nur in
defensiver Absicht. Was jedoch fehlte, war eine kohärente
Aussenpolitik als gemeinsames Projekt, so dass sich die Interessen teils
widersprachen, schon weil die einzelnen Stände sich mitunter misstrauisch und
eifersüchtig beäugten. Ging es gegen Habsburger, Mailänder und Burgunder, war
man sich, was das Militärische anging, schnell einig und zog frohgemut in die
Schlacht. Weil aber eben eine abgestimmte Aussenpolitik fehlte, liessen sich
militärische Siege oft nicht in dauerhaften politischen Erfolg ummünzen. Mit
der Niederlage in der Schlacht von Marignano am 13./14. September 1515, hatte
sich ohnehin gezeigt, dass dem militärischen Potenzial Grenzen gesetzt waren.
Mehr Erfolg hatten die Eidgenossen mit Friedensschlüssen, die ihre Existenz
als losen Staatenbund auf lange Sicht sicherten, so etwa mit den Habsburgern
im Jahre 1511 und Frankreich fünf Jahre später.
Verklärte Geburtsstunde
Dennoch wurde das Desaster von Marignano
später zur Geburtsstunde der Schweizer Neutralität verklärt, als sei die
Niederlage sozusagen ein heilsamer Schock gewesen, der die Eidgenossen
gelehrt habe, es nicht zu toll zu treiben. Garniert wurde dieser Mythos noch
mit zwei Zitaten des Nationalheiligen Niklaus von Flüe: «Mischt euch nicht in
fremde Händel» und «Machet den Zaun nicht zu weit». Beide Zitate wurden dem
Heiligen aus der Ranft allerdings erst posthum angedichtet.
Wann aber war die Geburtsstunde der Schweizer
Neutralität? Ich möchte die These vertreten, dass wir sie dem
Dreissigjährigen Krieg zwischen 1618 und 1648 verdanken. Dieser Konflikt, der
weite Teile Mitteleuropas und vor allem Deutschland ins Elend stürzte, war ja
auch konfessioneller Natur, also sehr vereinfacht gesagt eine
Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Protestanten. Die
Eidgenossenschaft hatte es jedoch im 16. Jahrhundert geschafft, ihren Bund
trotz konfessioneller Unterschiede und Konflikte am Leben zu erhalten. Wenn
man sieht, wie Religion heute noch als Brandbeschleuniger politische
Konflikte eskalieren lassen kann, sollte man aus heutiger Perspektive die
trotz Glaubensspaltung geglückte Bewahrung der Eidgenossenschaft mit Hochachtung
zur Kenntnis nehmen – für mich ist dies eine der grössten Leistungen in der
Schweizer Geschichte, auch wenn uns Konkordanz, Konsens und Kompromiss als
Preis dafür heute manchmal langweilig vorkommen mögen.
Vom Westfälischen Frieden…
Jedenfalls erkannten die Eidgenossen
angesichts des Mordens und Brennens jenseits des Rheins, dass es ein Gebot
der Vernunft und Klugheit war, sich nicht auf die eine oder andere Seite
ziehen und so auseinander dividieren oder gar in Kämpfe verwickeln zu lassen.
Und das zahlte sich aus: Der Westfälsche Friede, der dem Dreissigjährigen
Krieg ein Ende setzte, erlaubte es der Eidgenossenschaft nun auch de jure das
Reich zu verlassen, nachdem sie de facto schon seit dem 15./16. Jahrhundert
weitgehend unabhängig war. Gerade weil die Schweiz sich neutral verhalten
hatte, wollten weder Franzosen noch Habsburger, dass sich daran zugunsten des
anderen Lagers etwas änderte, weswegen beide Grossmächte dem Ausscheiden aus
dem Reich zustimmten. Die Eidgenossenschaft hatte also allen Grund, sich
weiterhin neutral zu verhalten und deklarierte dies erstmals offiziell im
Jahre 1674, als sie festhielt, «dass wir uns als ein Neutral Standt halten
und wohl versorgen wollen und sollen, dass wir uns Keinestheils soweit
einmischen, dadurch wir uns auch in den Krieg einwickhlen könndten».
Allerdings standen Schweizer Männer weiterhin in den Solddiensten fremder
Mächte, verhielten sich also alles andere als neutral, dennoch wurde die
Neutralität der Eidgenossenschaft nicht so weit in Frage gestellt, als dass
man sie an den Königshöfen Europas nicht respektiert hätte.
… zum Wiener Kongress
Dies änderte sich Ende des 18. Jahrhunderts
mit den Kriegszügen des revolutionären Frankreichs. Der junge General
Napoleon Bonaparte hatte schon aus militärisch-strategischen Gründen keinen
Sinn für die Neutralität der Schweiz. Die von Frankreich im April 1798
aufoktroyierte Helvetische Republik hatte keinerlei aussenpolitische
Bewegungsfreiheit und musste ausserdem für die Feldzüge Napoleons Soldaten
stellen. Mit der Mediationsakte von 1803 endete zwar das Intermezzo der
Helvetischen Republik, doch die neue Eidgenossenschaft war immer noch ein
französischer Satellit. Napoleon betonte zwar, dass die Schweiz neutral sei,
hatte aber an einer selbstbewussten, souverän gestalteten Neutralität kein
Interesse. Sie kam erst wieder auf die Tagesordnung, als Napoleon gestürzt
war und die Siegermächte auf dem Wiener Kongress 1814/15 daran gingen, die
Verhältnisse neu zu ordnen. Wie schon beim Westfälischen Frieden ging die
Schweiz aus den Verhandlungen aussenpolitisch gestärkt hervor und auch aus
neutralitätspolitischer Sicht konnte die Eidgenossenschaft mit dem Wiener
Kongress mehr als zufrieden sein. Denn nach einigem Hin und Her garantierten
die Grossmächte der Schweiz am 20. November 1815 eine «immerwährende
Neutralität».
Die Krise des 2. Weltkriegs
In Gefahr geriet diese Übereinkunft im 20.
Jahrhundert mit der Machtübernahme Hitlers und Mussolinis: Beide Diktatoren
verachteten die Neutralität der Schweiz, ja das ganze Konzept der auf
Konsens, Konkordanz und Kompromiss fussenden Schweizer Willensnation, die dem
auf Kampf, Nation und Rasse gründenden Faschismus und Nationalsozialismus
diametral entgegengesetzt war. Gleichzeitig betonten jedoch sowohl Hitler als
auch Mussolini immer wieder öffentlich, die Unabhängigkeit und Neutralität
der Schweiz wahren zu wollen, was die Schweizer Diplomatie in grosse
Unsicherheit und Ratlosigkeit stürzte. Immerhin war man nach der deutschen
Annexion Österreichs und der Zerschlagung der Tschechoslowakei so klug,
Hitlers heuchlerischen Friedensbekundungen keinen Glauben mehr zu schenken
und so war die Schweiz auf den Zweiten Weltkrieg vor allem
versorgungstechnisch weitaus besser vorbereitet als 1914. Einen Tag vor dem
deutschen Überfall auf Polen proklamierte die Eidgenossenschaft wie schon
beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs ihre Neutralität. Doch was die Hitler
wert war, zeigte sich am 9. April 1940 mit dem deutschen Überfall auf die
neutralen Länder Dänemark und Norwegen und rund einen Monat später mit der
Invasion in die ebenso neutralen Benelux-Staaten als Auftakt zum
Frankreich-Feldzug.
Dass die Grande Nation innerhalb weniger
Wochen kläglich kapitulierte, versetzte den Grossteil der Schweizer
Bevölkerung in eine Art Schock und tiefe Depression. Die Neutralität befand
sich jetzt in ihrer vielleicht schwersten Krise seit Bestehen der Eidgenossenschaft,
denn man war einsame Insel in einem faschistisch-nationalsozialistisch
beherrschten Kontinentaleuropa. Neutralität hiess deshalb jetzt für die
Aussenpolitik Berns vor allem, nur ja alles zu unterlassen, was Hitler reizen
könnte. Eine von der Armee ausgeübte Medienzensur bemächtigte sich vor allem
der Berichte und Kommentare, die sich allzu kritisch zu Hitler und Mussolini
äusserten. Diese doch etwas sehr einseitige Neutralität blieb den Alliierten
natürlich nicht verborgen und wurde von ihnen dementsprechend kritisiert. Aus
Schweizer Sicht ging die Rechnung jedoch wie schon während des Ersten
Weltkriegs auf: Die neutrale Schweiz, in der man, wie es ein Witz
formulierte, an sechs Tagen für Nazi-Deutschland produzierte und am siebten
Tag für den Sieg der Alliierten betete, war für Hitler mit ihren von
Bombardierungen verschonten Fabriken und Eisenbahntransversalen, dem Strom,
den sie wichtigen süddeutschen Fabriken lieferte, und den Banken, die sie zur
Verfügung stellte, ganz schlicht und einfach nützlicher, als wenn die
Wehrmacht das Land besetzt hätte.
Schweiz im Dilemma
Hitler hätte den Einmarsch in die Schweiz
wohl befohlen, wenn es ihm opportun erschienen wäre, das beweist die erst
1944 erfolgte Besetzung Ungarns. Problematisch wurde die auf Deutschland
Rücksicht nehmende Neutralität mit der Invasion der amerikanischen und
britischen Streitkräfte im Juli 1943 auf Sizilien und dem Aufbrechen der von
Deutschland und Italien beherrschten «Festung Europa». Jetzt befand sich die
Schweiz neutralitätspolitisch in einem Dilemma: Einerseits zeichnete sich
immer deutlicher ein Sieg der Alliierten ab, andererseits befand man sich
weiterhin im Würgegriff der Achsenmächte Deutschland und Italien, weil die
Schweiz beispielsweise bei der Einfuhr von Kohle völlig auf das Wohlwollen
des NS-Regimes angewiesen war. Für die Armee hiess das, weiterhin eine
absolute, kompromisslose Neutralität zu praktizieren, was beispielsweise
bedeutete, dass die Schweizer Flugabwehr auf US-Bomber schoss, wenn sie, ob
aus Versehen oder nicht, in den Schweizer Luftraum eindrangen. In der
Bevölkerung stiess dies auf grosses Unverständnis und Kritik, denn man sah in
den amerikanischen Bombergeschwadern nicht in erster Linie eine zu ahndende
Neutralitätsverletzung, sondern die Hoffnung auf Befreiung Europas vom
Nazi-Terror.
Unmittelbar nach Kriegsende galt die
Schweizer Neutralität im Ausland angesichts der nationalsozialistischen
Verbrechen als etwas Unmoralisches. Doch das änderte sich mit dem Zerfall der
alliierten Allianz und dem Heraufdämmern des Kalten Krieges Ende der
1940er-Jahre. Dass sich Österreich 1955 nach Schweizer Vorbild für neutral
erklärte, bewies, dass das Schweizer Neutralitätsverständnis wohl doch nicht
so aus der Zeit gefallen war.
Neutralität in der Sinnkrise
Während des Kalten Krieges zelebrierte die
Schweiz eine aufgrund der positiven Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs
übersteigerte, mythisch überhöhte, aber durchaus demokratisch legitimierte,
da von einer sehr grossen Mehrheit der Bevölkerung mitgetragene Neutralität.
Sie liess die Schweiz der Europäischen Gemeinschaft ebenso fernbleiben wie
der UNO. Allerdings ermöglichte es die Neutralität, sich als Vermittler in
Konfliktlagen nützlich zu machen. Auf Schweizer Boden fanden wichtige
Konferenzen und Gespräche statt, so etwa das Gipfeltreffen zwischen Ronald
Reagan und Michail Gorbatschow im Jahre 1985 in Genf.
Dass der Kalte Krieg 1989/90 für die
allermeisten völlig überraschend zu Ende ging, erwischte auch die Schweiz auf
dem falschen Fuss. Das Ende der Konfrontation stürzte sie in eine Art
Sinnkrise, denn wozu brauchte es nun noch eine Neutralität à la suisse?
Sollte man sie abschaffen? Oder transformieren? Darüber wurde in den
1990er-Jahre intensiv diskutiert, auch und gerade mit Blick auf die Rolle der
Schweiz im Zweiten Weltkrieg, deren Neutralität von linker Seite als
„Selbstbetrug“ gebrandmarkt, von rechtsbürgerlicher Seite dafür umso
glühender verteidigt wurde, so etwa als es 1992 darum ging, den Beitritt der
Schweiz zum EWR zu verhindern, was bekanntlich auch gelang. Der Beitritt zur
UNO wurde zehn Jahre später zwar an der Urne gutgeheissen, dies aber nicht
mit einem Glanzresultat.
Denjenigen, die Neutralität als etwas
Antiquiertes betrachteten, schien sie schon deshalb obsolet, weil grössere
zwischenstaatliche Kriege, zumindest in Europa, undenkbar schienen. Doch das
vermeintliche Glück des «Posthistoire» erwies sich als trügerisches
Intermezzo, das bereits am 11. September 2001 endete. Und mit dem
völkerrechtswidrigen Angriff Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022
trat etwas ein, das nach den friedlichen Umwälzungen 1989/90 kaum jemand für
möglich gehalten hatte. Dass die Schweiz der Ukraine grosszügige humanitäre
Hilfe leistete und Flüchtlinge aufnahm, überraschte dabei weniger als die
Übernahme der westlichen Sanktionen gegen Russland. Denn bis heute ist
eigentlich nicht geklärt, was Neutralität auch und gerade im Konfliktfall und
angesichts eines brutalen Regimes wie in Moskau konkret heisst.
Sagen, was gesagt werden muss
Wie sieht nun das Fazit aus? Hat sich die
Neutralität bewährt? Meine Antwort: Kommt darauf an, wen man fragt. Aus
Schweizer Sicht ist man mit der Neutralität sicher sehr gut gefahren, denn
ein kleines Land in aussenpolitische Abenteuer oder Kriege zu verwickeln, ist
sicher keine gute Idee. Vergessen wir nicht, dass seit Beginn des 19.
Jahrhunderts keine ausländische Armee mehr zu Kriegszwecken Schweizer Boden
betreten hat, wir also seit mehr als 220 Jahren Frieden haben. Doch machen
wir uns nichts vor: Ausserhalb der Schweiz ist deren Neutralität längst nicht
so ein hehres Ideal, wie es ihre Verfechter gerne hätten, sondern erscheint
bisweilen als Alibi für Rosinenpickerei und Geschäftemacherei bar jeglicher
Moral. Es ist schon deshalb aus meiner Sicht dringend geboten, Neutralität so
zu verstehen und zu praktizieren, dass die Schweiz Kriegsverbrechen und
Völkermord und die dafür Verantwortlichen ohne neutralitätspolitische
Ausflüchte benennt und auch dementsprechend handelt. Lassen wir also bitte
Neutralität nicht zum Synonym für Feigheit werden.
Zur Person:
Christian Ruch ist Dr. phil. und tätig als
freischaffender Historiker, Soziologe und Journalist. Seine neuste Publikation
ist das Buch «Graubünden und der Zweite Weltkrieg. Alltag im Ausnahmezustand»
(Verlag Hier und Jetzt, ZH). Ausserdem ist Ruch Co-Autor der
Nordkap-Sarganserland-Krimis «Venner» und «Mørk» (driftwood-Verlag, Chur).
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