"Eine soziale Einrichtung zur Rettung der Gesundheit"

domingo, 22 de octubre de 2023

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Im Jahr 2040 wird es in der Schweiz doppelt so viele Menschen im Alter von 80 Jahren und älter geben wie heute. Gespräch über ein brisantes Thema mit dem Rotarier Tristan Gratier, Direktor von Pro Senectute Waadt und Mitglied des RC Lausanne.

Tristan Gratier, Sie haben im September Ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Gehören Sie nun zu den Senioren in der Schweiz?

Nein, noch nicht!

In welchem Alter wird man laut Schweizer Statistik "offiziell" zum Senior?

Man wird es mit Erreichen des Rentenalters. Man muss jedoch bedenken, dass zu der Zeit, als das Rentenalter von 65 Jahren eingeführt wurde, Männer oft in diesem Alter starben - kurz gesagt, sie arbeiteten ihr ganzes Leben lang! Dies hat sich geändert, da die Lebenserwartung von Männern heute zwischen 83 und 85 Jahren liegt. In der Arbeitswelt hingegen gilt eine Person ab 55 Jahren als Senior.

Ah, das ist viel früher.

Glücklicherweise haben Senioren in der Schweiz ein viel geringeres Risiko, entlassen zu werden, als im restlichen Europa. Allerdings werden Ältere in der Schweiz weniger leicht wieder eingestellt, sowohl aus psychologischen als auch aus Lohngründen, denken wir nur an das BVG. Abgesehen davon ändert sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt für Senioren, da es heute auf diesem Markt an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mangelt. Die Rolle von Pro Senectute besteht darin, mit den Kantonen und Gemeinden zusammenzuarbeiten, um die Beschäftigungsfähigkeit von Seniorinnen und Senioren zu fördern, ihnen zu helfen, ihre eigene Situation zu reflektieren und ihr oft durch Arbeitslosigkeit zerrüttetes Selbstwertgefühl wiederzufinden, gemeinsam mit Psychologen und Fachleuten aus der Arbeitswelt. Zu diesem Zweck hat Pro Senectute AvantAge gegründet, ein Organ, das heute Marktführer ist, auch bei der Vorbereitung auf den Ruhestand für Personen ab 50 Jahren. Die Pensionierung stellt in der Schweiz, wo die Arbeit einen so hohen Stellenwert hat, immerhin einen Bruch im Leben dar. Auch die Arbeitgeber spielen hier eine Rolle, indem sie die Kosten für diese Vorbereitungskurse übernehmen. Diese sind sowohl auf psychologischer, sozialer als auch auf finanzieller Ebene wichtig.

In der Antike war Seniorität gleichbedeutend mit Respekt und Autorität und hatte daher eine positive Konnotation. Wie ist der Blick unserer heutigen Gesellschaft auf das Alter?

Ich habe festgestellt, dass das Covid ein immenser Schock für die Senioren war, die sich mit dem Vorwurf konfrontiert sahen, dass man "das Land für die Alten aufhält!". Eine grosse Mehrheit der Senioren wollte nicht überbehütet werden und fühlte sich infantilisiert. Dies bedeutete einen erheblichen gesellschaftlichen Bruch. Es bedurfte der Botschaften der Behörden, die darauf abzielten, dass die Massnahmen dem Schutz gefährdeter Personen dienten, unabhängig von ihrem Alter. Ich würde in der Tat nicht sagen, dass die Seniorität in unseren heutigen Gesellschaften verehrt wird.

In der Werbung ist heute eine Tendenz zu beobachten, ältere Menschen in den Vordergrund zu stellen. Ist das reines Marketing?

Ich habe leider den Eindruck, dass es sich um Marketing handelt. Produkte, die für ältere Menschen bestimmt sind, werden von Frauen oder Männern präsentiert, die vielleicht 40 Jahre alt sind und grau gefärbte Haare tragen, um den Eindruck zu erwecken, sie seien 70 Jahre alt. Die Werbung vermittelt weiterhin die Vorstellung, dass man mit dem richtigen Produkt ewig jung bleiben kann. Es ist ein bisschen wie bei Schlankheitsprodukten, man wird Ihnen nie eine eingehüllte Person zeigen, sondern natürlich eine "Traumfigur".

Was sind die Merkmale der Senioren von heute?

In den sechs Jahren, in denen ich den Schweizer Alters- und Pflegeheimen vorstand, habe ich festgestellt, dass die Bewohnerinnen und Bewohner dort eher einfache und sich wiederholende Tätigkeiten ausübten. Das ist heute überhaupt nicht mehr der Fall. Die Babyboomer haben ihre Ideen und setzen sie durch, sind es gewohnt, Entscheidungen zu treffen, und wollen ihre Autonomie bewahren. Die Erwartungen ändern sich, was von den Institutionen - auch von uns - viel Flexibilität verlangt. Menschen im Ruhestand werden nicht an einem Ort bleiben, sondern reisen, kümmern sich um ihre Enkelkinder, treiben Sport etc. etc. In der Vergangenheit konnten wir mit unseren 600 Freiwilligen einen stabilen Zeitplan erstellen. Heute kommen die Freiwilligen an einem Montag, aber nicht an einem anderen, sie verpflichten sich für einen Monat, vielleicht für drei, aber nicht für ein ganzes Jahr. Das ist eine beträchtliche Herausforderung. Aber es ist auch herausfordernd, unsere Programme und Aktivitäten, in die wir die Senioren einbeziehen, ständig neu zu entwickeln. Wir geben ihnen eine Stimme und entscheiden nicht an ihrer Stelle.

Hat sich auch der Blick der Senioren auf sich selbst verändert?

Die Senioren von heute sehen sich oft nicht als Senioren: Der Begriff passt nicht zu ihnen, sie fühlen sich nicht angesprochen. Dies ist eine kommunikative Herausforderung für Pro Senectute, die 1917 tatsächlich gegründet wurde, um "alten Menschen" zu helfen, und sich für die Schaffung der AHV im Jahr 1947 einsetzte. In der Vergangenheit gingen die Menschen eher in Pflegeheime - die vor nur 30 Jahren noch "Altersheim" hießen! Heute wird Unabhängigkeit angestrebt; ältere Menschen wollen so lange wie möglich zu Hause bleiben, mit häuslicher Pflege oder in geeigneten Wohnungen. 1960 schuf Pro Senectute Waadt die ersten betreuten Wohnungen, zehn Jahre später die erste Seniorengymnastik, und in den 90er Jahren folgten die ersten solidarischen Nachbarschaften und Dörfer. Heute sind wir führend in der Information und Orientierung von Senioren und ihren Familien, über die Internetplattform Info Seniors Vaud, die an Spezialisten in den Bereichen Soziales, Gesundheit und Immobilien verweist. Und ein großer Teil der angebotenen Aktivitäten macht "Spass"! Mehr als 6000 Personen treiben mit uns Sport. All das zeigt, wie sehr sich Pro Senectute für die Prävention von Risiken im Gesundheits- und Sozialbereich einsetzt.

Werden die Leistungen eher von Frauen oder von Männern in Anspruch genommen?

Mehr von Frauen, die die unangenehme Tendenz haben, länger zu leben als Männer! (lacht). Männer achten weniger auf ihre Lebensweise, trinken, rauchen, essen fettig und hören kaum auf Warnungen, zum Arzt zu gehen, das ist nichts Neues. Ausserdem scheuen sich Männer mehr, um Hilfe zu bitten oder zu uns zu kommen. Es ist sehr schwierig, Männer zu finden, die an unseren Tanztees teilnehmen!

Heutzutage möchten ältere Menschen so lange wie möglich zu Hause bleiben.

Ja, das ist eine Tatsache. Pro Senectute Waadt entwickelt nicht nur seit den 1960er Jahren angepasste Wohnungen, sondern setzt sich auch für die Anpassung bestehender Wohnungen ein, in denen ältere Menschen wohnen. Wir arbeiten mit unserem eigenen Architekten und kooperieren mit Gebäude- und Wohnungseigentümern wie Retraites Populaires und der Stadt Lausanne. Badewannen aufbrechen und schwellenlose Duschen einbauen, Toiletten erhöhen und Handläufe anbringen - das ist ein modernerer Ansatz für das Wohnen. Außerdem bieten wir die Betreuung an, d. h. Sozialreferenten, die ein- bis mehrmals pro Woche vorbeikommen und bei Bedarf auch unter den Bewohnern zu vermitteln wissen. Es ist übrigens interessant, einen Unterschied zwischen der Romandie und der Deutschschweiz festzustellen, wo die Leute offener sind, in ein Alters- oder sogar Pflegeheim zu gehen. Die Westschweiz setzt viel stärker auf die häusliche Pflege oder eben auf angepasste und betreute Wohnungen, die keine Pflegeheime sind. Ich denke, dass sich dieser Trend in der ganzen Schweiz etablieren wird, was für die Behörden in der Deutschschweiz eine grosse Herausforderung darstellt. Eine weitere interessante Feststellung ist, dass in der Westschweiz 75 Prozent der Bewohner von Alters- und Pflegeheimen nicht in der Lage sind, die Kosten zu tragen. In der Deutschschweiz ist dieser Anteil geringer, da die Menschen hier mehr für ihr Alter sparen.

Wie kann man diesen Bedürfnissen gerecht werden? Was fehlt am meisten?

Im Jahr 2040 wird es in der Schweiz doppelt so viele Menschen im Alter von 80 Jahren und älter geben wie heute. Die brennende Frage ist nicht die nach Wohnungen, sondern die nach Pflege- und Betreuungspersonal: Wo finden wir es? Wir haben es heute nicht und werden es auch morgen nicht haben! Diese Feststellung verdeutlicht die heutige Berufung von Pro Senectute: Sie ist eine soziale Institution, die der Welt der Gesundheit zu Hilfe kommt. Dank ihrer Präventionsarbeit bei den Menschen vor ihrem Alter wird es möglich sein, den Bedarf an medizinischen Leistungen zu senken.

Sie sind in mehreren Stiftungen und auch bei Rotary engagiert. Gibt es da eine Verbindung?

Ich bin bei Rotary für soziale Aktivitäten zuständig. Das ist sehr schön, denn mein Netzwerk ermöglicht es mir, Unterstützungsanfragen intelligent zu filtern und sicherzustellen, dass das Geld der Rotarierinnen und Rotarier gut investiert ist. Der RC Lausanne spendet 20000 Franken pro Jahr, 2000 pro Person oder Institution. Dies ermöglicht es, gezielt kleine Einheiten anzusprechen, für die 2000 Franken wirklich essentiell sind.

People of Action

Nach dem Besuch der Universität und einem Abschluss als Ökonom sowie einem Bachelor of Science an der Hotelfachschule in Lausanne war Tristan Gratier 13 Jahre lang Generalsekretär der Association vaudoise d'Etablissements Médico-Sociaux und sechs Jahre lang Präsident der Schweizer Pflegeheime. Seit 2014 leitet er Pro Senectute Vaud. Tristan Gratier ist zudem Präsident der Association vaudoise d'aide et de soins à domicile (AVASAD), Präsident der Association vaudoise des organisations privées pour personnes en difficulté (AVOP), Präsident der Fondation Stanislas, Präsident von CADHOM SA, der Einkaufszentrale der Heime, Präsident der Stiftung Val Paisible, Mitglied der Stiftungsräte von drei Alters- und Pflegeheimen, zwei Behinderteneinrichtungen und zwei AGs. Tristan Gratier wurde am 11. September 1973 geboren, ist verheiratet und hat zwei Kinder. 


Tristan Gratier, seit 2014 Direktor von Pro Senectute