Toleranz, innerer Kompass unserer Wertesysteme oder Spiegel unserer Ängste?

jueves, 1 de septiembre de 2022

Rot. Geneviève Constantin-Zufferey

Als Leiterin einer sonderpädagogischen Einrichtung, die Kinder und Schüler mit Behinderungen aufnimmt, erlebe ich die Toleranz der Gesellschaft gegenüber Behinderungen ganz konkret. Um die Ausübung einer echten Inklusion zu fördern, lassen wir Ängste und Vorurteile fallen und machen konkrete Erfahrungen im Zusammenleben mit anderen Menschen. Mitglieder des RC Les Rangiers haben diese Grundsätze in die Tat umgesetzt.

Toleranz ist ein Wort, das unserem Bewusstsein, das von den Grundwerten des Zusammenlebens geprägt ist und schnell Ideologien verurteilt, die sein Gegenteil, die Intoleranz, propagieren, ein wohlklingendes Lied singt. Wir müssen jedoch feststellen, dass Verständnis, Nachsicht, Respekt und Milde allzu oft Formen der Ablehnung und Diskreditierung weichen, wenn die Meinung anderer mit unserem geduldig aufgebauten inneren Wertefundament kollidiert. 

Toleranz voll und ganz mit Freiheit verbunden

Die Etymologie des Wortes Toleranz (vom lateinischen Wort tolerare: ertragen) lässt bereits die Anstrengung erkennen, die man auf sich nehmen muss, um sie auszuüben. Toleranz gehört also nicht zu den Fähigkeiten, die im genetischen Erbe des Menschen verankert sind, sondern ist das Ergebnis einer Erziehung und eines gesellschaftlichen Willens. Seit der Aufklärung und dem apokryphen Ausspruch, der fälschlicherweise Voltaire zugeschrieben wird, aber seine Gedanken korrekt zusammenfasst: "Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod für Ihr Recht kämpfen, es zu sagen", wird Toleranz voll und ganz mit Freiheit in Verbindung gebracht und von dem Philosophen und Ökonomen John Stuart Mill zu einer notwendigen Bedingung für den Fortschritt der Gesellschaft und des Wissens, die Ausübung individueller Autonomie und die moralische und kulturelle Entwicklung gemacht. Die Gesetze, die sich die Staaten geben, dienen letztlich dazu, möglichst weitgehend festzulegen, was tolerierbar ist und was nicht. 

Die Kühnheit junger Frauen und Männer

Innerhalb dieses gesetzlichen Rahmens verliert die berühmte "Toleranzschwelle", auf die sich viele taktlose Frauen und Männer berufen, um ihre Handlungen zu rechtfertigen, jegliche Legitimität. Als überzeugte Feministin und ohne die erzielten Fortschritte zu leugnen, bedauere ich die allzu zahlreichen Ungleichheiten, mit denen Frauen in der Schweiz noch immer leben. Historiker sind sich einig, dass die moderne Schweiz im Jahr 1848 gegründet wurde, während ich das Jahr 1971 als Datum für die Einführung des Frauenstimmrechts nenne. Ich gestehe, dass mich die Kühnheit, die diese jungen Frauen und Männer an den Tag legen, erschüttert, und ich frage mich, welche Verantwortung die Frauen meiner Generation tragen, die - zweifellos zu Unrecht - allzu viele Diskriminierungen und Ausdrucksformen eines banalisierten Sexismus toleriert haben, ohne sie zu bekämpfen. 

16. November, Internationaler Tag für Toleranz

Unter der Leitung der UNESCO und seit 1996 begeht die internationale Gemeinschaft jeden 16. November den Tag für Toleranz2. Für die Vereinten Nationen "ist dieser Imperativ das Herzstück der Charta der Vereinten Nationen sowie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in diesem Zeitalter des gewalttätigen Extremismus und Radikalismus, der durch eine fundamentale Missachtung des menschlichen Lebens gekennzeichnet ist, wichtiger denn je". 

Die Rechte von Menschen mit Behinderungen

Als Leiterin einer sonderpädagogischen Einrichtung, die Kinder und Schüler mit Behinderungen im Alter von 0 bis 20 Jahren aufnimmt, erlebe ich konkret, wie tolerant die Gesellschaft gegenüber Behinderungen ist und wie gut der Staat auf die legitimen Forderungen der Betroffenen reagiert. Auf schweizerischer Ebene und dank des Inkrafttretens des Behindertengleichstellungsgesetzes 2002 (BehiG) und der Interkantonalen Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik von 2007 nimmt die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die mit integrativen Massnahmen unterrichtet werden, allmählich zu. Im Bereich der Erwachsenenbehinderung arbeiten die kantonalen Parlamente in unterschiedlichem Tempo an spezifischen Gesetzesentwürfen, und auch hier muss man zugeben, dass der Föderalismus die Fortschritte in diesem Bereich verzögert. 

Am 31. März 2022 legte der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) einen Bericht vor, in dem er die Schweiz wegen der Verletzung der Rechte aus dem 2014 ratifizierten Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen - 1,8 Millionen Menschen sind in der Schweiz betroffen - scharf kritisierte. Insgesamt wirft der Ausschuss der Schweiz das Fehlen einer umfassenden Strategie, einen unzureichenden Schutz vor Diskriminierung und eine unzureichende Umsetzung in allen Lebensbereichen vor3.

Um von einer Gesellschaft, in der Behinderungen toleriert werden, zu einer wirklich inklusiven Gesellschaft zu gelangen, die das volle Recht auf soziale Teilhabe und Selbstbestimmung garantiert, wäre jedoch nur ein starker politischer Wille nötig, der mit einer Umverteilung und Erweiterung der bereits bereitgestellten Ressourcen einhergeht.

Mit Rotary unsere Ängste ablegen

Von den grossen ethischen Prinzipien, die von den Gesellschaften angenommen werden, bis zur Umsetzung echter sozialer Gerechtigkeit, von der vorgetäuschten Toleranz bis zum echten Respekt für jeden und jede und ihre Rechte, scheint der Weg mit ebenso vielen Hindernissen gepflastert zu sein wie die individuellen Unterschiede. Wie wäre es, wenn wir einen anderen Weg einschlagen würden, nämlich den des echten Respekts und der Aufgabe unserer Ängste vor dem Unterschied? Um die Ausübung echter Inklusion zu fördern, sollten wir Ängste und Vorurteile fallen lassen und das Leben mit anderen konkret erfahren. Im Jahr 2018 setzten Mitglieder des Rotary Clubs Les Rangiers diese Grundsätze in die Praxis um, indem sie Schülern mit Behinderungen einen Tag im Europapark ermöglichten und sie bei diesem Abenteuer begleiteten, das letztlich eher eine Lektion fürs Leben als ein Tag der Freizeitgestaltung war! 

Es liegt an uns allen, den Rotarierinnen und Rotariern, die Kardinalwerte Toleranz und Respekt in die Praxis umzusetzen. Wir sollten unser Wertesystem regelmässig auf den Prüfstand stellen und uns von diesem inneren Kompass leiten lassen, um auf der Grundlage von Respekt vor der Meinung anderer zu erkennen, was tolerierbar ist und was nicht.

Rotarier im Fokus

Geneviève Constantin-Zufferey wurde 1969 im Val d'Anniviers (VS) geboren und verfügt über eine Ausbildung als Sonderschullehrerin, die sie mit einem Master in Psychologie ergänzt hat.  Nach 12 Jahren als Leiterin der Schulen in ihrem Tal leitet sie nun die Stiftung Pérène, eine jurassische Institution für Sonderpädagogik. Sie ist verheiratet und Mutter von drei jungen Erwachsenen, übt ausserdem die Chorleitung aus und tankt Kraft in der Natur. Seit 2017 ist sie Mitglied des RC Les Rangiers.


Rot. Geneviève Constantin-Zufferey