Die rote Linie: von Zürich über Genf und Vaduz nach Luzern

domingo, 2 de noviembre de 2025

vmn

Wer die Kinderlähmung für erledigt hält, macht sie gefährlich. Eine rotarische Delegation zeigt rund um den Welt-Polio-Tag, warum die letzte Meile der schwierigste Abschnitt im Kampf gegen Polio ist.

Polio ist beinahe besiegt – und genau das macht die Krankheit so tückisch. Was aus dem Alltag gerät, verliert leicht an Bedeutung. Doch ob die Kinderlähmung zur Fussnote der Medizingeschichte wird oder als Rückkehrerin Schlagzeilen schreibt, entscheidet sich jetzt. Rund um den Welt-Polio-Tag 2025 zeigte eine internationale Rotary-Delegation, dass man das Unsichtbare wieder sichtbar machen kann: in Genf, wo globale Gesundheit entschieden wird; in Vaduz, wo sie einst versagte; und in Luzern, wo sie zur kulturellen Botschafterin wird. Drei Stationen einer einzigen Botschaft: Erfolg braucht Wachsamkeit. Gerade auf der letzten Meile.

In Genf besuchten die rotarischen Vertreter die WHO – jene Institution, die seit 1988 Partnerin von PolioPlus und damit Verbündete im wohl erfolgreichsten Public-Health-Projekt der Geschichte ist. WHO-Generaldirektor Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus würdigte öffentlich Rotarys «unerschütterliche Entschlossenheit» und dankte für den Besuch anlässlich des Welt-Polio-Tages. Dass er dies sichtbar an einer globalen Öffentlichkeit adressierte, unterstreicht die politische Relevanz dieses Engagements. Die Botschaft aus der Spitze der Weltgesundheit ist deutlich: Der medizinische Sieg ist möglich, aber er wird nicht allein im Labor errungen.

WHO-Generaldirektor Dr. Tedros mit Christian Schleuss (links, Polio-Koordinator), Oliver Rosenbauer (rechts, Polio-Koordinator)

Er hängt ab vom Frieden in Krisenregionen, von funktionierenden Impfstrukturen – und von einer internationalen Gemeinschaft, die eine Krankheit nicht erst dann wieder ernst nimmt, wenn sie zurückkehrt. Dass heute nur noch Poliovirus Typ 1 in Afghanistan und Pakistan endemisch auftritt, verdankt sich jahrzehntelanger, rotarisch initiierter Arbeit. Doch dieselben Abwasseruntersuchungen, die Sicherheit versprechen sollen, detektierten zuletzt wieder mutierte Impfvirus-Derivate in Grossstädten Europas. Fortschritt und Rückschlag liegen nah beieinander. Polio bleibt ein politischer Indikator: Wo Staaten scheitern, gewinnen Viren Spielraum.

In Vaduz trafen Expertise, Engagement und Erfahrung aufeinander

Vaduz erinnert an das, was Europa vergessen hat

Es braucht Orte wie Vaduz, um zu verstehen, dass Polio keine ferne Geschichte ist. Auf dem Peter-Kaiser-Platz erinnerten die örtlichen Rotary Clubs mit Partnern aus der Schweiz und aus Deutschland daran, dass die Krankheit in der Region noch vor wenigen Jahrzehnten Kinderleben kostete. Gesundheitsminister Emanuel Schädler mahnte, man dürfe nicht nachlassen. Rotary-Direktorin Christine Büring betonte, Unsichtbarkeit sei kein Beweis für Verschwinden. Und Josef Marxer, Präsident der Liechtensteiner Patientenorganisation, sprach über die Verantwortung einer Gesellschaft, die sich schützen kann. Besonders eindrücklich wurde es, als Filmjournalist Alex Oberholzer – selbst poliobetroffen – von einer Kindheit erzählte, die durch die Krankheit aus der Bahn geworfen wurde. An seiner Seite ordnete der Arzt, Musiker und Philosoph Jürg Kesselring (RC Bad Ragaz) die medizinischen Fakten ein. Aus Zahlen wurden Gesichter, aus Statistik wurde Schicksal. Genau das ist die Aufgabe des Welt-Polio-Tags: nicht zu erschrecken, sondern zu erklären.

Luzern macht aus einer Mission ein Erlebnis

Am Ende der Reise stand Luzern – und eine Inszenierung des Themas auf der höchsten kulturellen Bühne des Landes. Das Benefizkonzert «Sinfonie in Bildern» im KKL verband die emotionale Kraft der Musik mit der Dringlichkeit einer globalen Gesundheitsmission. Die Stuttgarter Philharmoniker unter der Leitung von Chloé Dufresne, der georgische Ausnahmepianist Tsotne Zedginidze mit Tschaikowskys Klavierkonzert und die grossformatigen Live-Projektionen von Tobias Melle zu Dvořáks Neunter «Aus der Neuen Welt» machten das Hörbare sichtbar – und die Idee einer besseren, gerechteren Welt erlebbar. Für jedes verkaufte Ticket fliessen zehn Franken in den globalen PolioPlus-Fonds; durch das Gates-Matching werden daraus dreissig Franken – eine Hebelwirkung, die aus Kultur konkrete Zukunft macht. Ein ausverkauftes Haus bedeutet fast 100000 Impfdosen: genug, um unzähligen Kindern eine Zukunft zu sichern. Unter den Gästen: der frühere RI-Präsident Holger Knaack, RI-Direktorin Christine Büring, End-Polio-Now-Koordinator Christian Schleuss sowie hochrangige Vertreter aus Politik, Gesellschaft und Kultur. 

Christian Schleuss, PDG Ursula Schöpfer und Sabina Gärtner-Nitsche vor dem Konzert im KKL

Was hängenbleibt nach der aufregenden Woche: Polio ist kein medizinisches Rätsel mehr. Es ist ein geopolitischer Härtetest – für Impfprogramme, für internationale Solidarität, für das Durchhaltevermögen einer Welt, die schnell abgelenkt ist. Die Reise von Zürich nach Luzern hat genau das sichtbar gemacht: Rotary bleibt auf Kurs, selbst dann, wenn das Ziel fast in Reichweite scheint. Denn genau dann entscheidet sich, ob Geschichte geschrieben wird. Oder ob sie sich wiederholt.