Ob im Job, im Ehrenamt oder mitten im Leben: Wer den Sinn seines Tuns erkennt, bleibt motiviert – auch dann, wenn es anstrengend wird. Doch wie lässt sich Sinn überhaupt finden? Ist er vorgegeben oder selbst gemacht? Und was hilft, wenn er abhandenkommt? Dr. Anette Fintz, Philosophin, Beraterin und Rotarierin, über das, was Menschen antreibt – und über die Frage, warum auch Rotary immer wieder nach dem «Wozu» fragen sollte.
Liebe Frau Fintz, ist «Sinn» ein Begriff, der wiederentdeckt wurde – oder war er nie weg?
Als ich 1998 das Institut für Sinn-orientierte Beratung gründete, musste ich bei Beauftragung häufig unterschreiben, dass ich keiner Sekte oder esoterischen Bewegung angehöre! Zur Erklärung machen wir einen kurzen Ritt durch die Zeitgeschichte: Sinn wurde immer als Teil von Religion begriffen. Die Trias Tradition – Rolle – Rituale verankerte gesellschaftliche Zusammenhänge, und die Warum-Frage lief theologisch unter der Theodizee.
Die Säkularisierung schlug zum Ende des 18. Jahrhunderts ein Loch in dieses geschlossene Sinn-System. Immanuel Kant stellte kopfschüttelnd fest, dass der Mensch das einzige Lebewesen sei, das sich fragt, weshalb es überhaupt existiere…
Es folgten Gesellschaftsideen, Nationalismus, Szientismus … – alles Versuche, Sinn jenseits von Religionen universal zu beantworten.
Im 21. Jahrhundert sehen wir Sinn als eine Aufgabe: Ein «Wozu» wird nicht geliefert, jede/r muss sich selbst in Beziehung zur Welt setzen. Klingt anstrengend – ist es auch.
Viele Menschen suchen nach neuer Orientierung, beruflich wie privat. Was beobachten Sie in Ihrer Beratungspraxis?
Was ich zunehmend beobachte, ist die wachsende Angst, etwas falsch zu machen oder falsch zu entscheiden. Richtig und falsch sind aber keine hilfreichen Kategorien in einer komplexen Welt. Wir müssen anders fragen.
Zum Beispiel, was gutes Leben und Arbeiten bedeutet – und was ich persönlich dazu beitragen kann. Diskussionen darüber wirken befreiend, öffnen neue Horizonte und geben Mut.
Sie sagen, Sinn sei kein Luxus, sondern eine Grundbedingung für Motivation und Leistung. Erklären Sie uns das genauer?
Jeder erinnert sich an Bergtouren, bei denen uns immer wieder nochmal Kräfte zuwuchsen, weil uns die Sehnsucht voran, nach da oben zog. Umgekehrt schwindet alle Kraft, wenn man nicht sieht, weshalb man überhaupt (noch) geht.
Sinn ist also ein geistiger Horizont, auf den ich beständig zulaufe. Durch die Orientierung am Sinn werde ich kreativ, halte Widerstände aus und kann Frustration überwinden. Sinn wirkt wie ein Magnet, er zieht an.
Wie erkennen Menschen, ob ihr Leben oder ihre Arbeit (noch) sinnhaft ist? Oder anders gefragt: Gibt es Warnzeichen für eine «Sinnkrise»?
Ein wichtiger Punkt ist das Erleben von Selbstwirksamkeit: Macht es einen Unterschied, ob ich da bin oder nicht? Längerfristige Ungewissheit darüber wirkt destabilisierend. Deshalb sind Karriere-Einbrüche, Pensionierung, Empty-Nest, überhaupt das Älterwerden Anlässe für mögliche Sinnkrisen. Ich muss einen neuen Sinn-Horizont erarbeiten, der idealerweise den alten ablösen kann. Das sind anstrengende Lebensphasen mit Krisenmerkmalen.
Aus meiner Sicht gilt es nicht, diese zu vermeiden, sondern vielmehr, einen hilfreichen Umgang zu finden. Dazu gehört als erstes die Akzeptanz der Phase als Teil des eigenen Lebens.
In Ihrem Institut begleiten Sie vor allem Unternehmen. Wie lässt sich in Organisationen ein Gefühl von Sinn stiften, jenseits von Hochglanz-Visionen?
Es geht nicht um ein Gefühl, sondern um eine Orientierung am Unternehmens-Sinn. Wenn wir den benannt haben, erarbeiten wir Wege dorthin (Strategie und Milestones), damit verbundene Aufgaben und die Kultur auf dem Weg, also die Unternehmenswerte. Das zusammen bewirkt Selbstwirksamkeit der Einzelnen, Konfliktfähigkeit und Durchhaltevermögen. Alles, was eine Unternehmung resilient macht. Deshalb lautet mein Slogan: «Wer Leistung will, muss Sinn bieten.»
Sinnstiftend wirken auch Unternehmens-Narrative, die jedem die Möglichkeit bieten, Teil einer grösseren Geschichte zu sein. Unternehmens-Biopics wie Beispiel «Dutti und Adele» zeigen, wie stark solche Erzählungen sind.
Eine Unternehmens-Story-Line fügt Ereignisfragmente und Individuen zu einem Sinn-Ganzen zusammen. Bei Firmenjubiläen verorten wir uns in dieser Geschichte immer wieder neu.
Sie verbinden Coaching mit Philosophie. Welche Denkansätze inspirieren Sie in Ihrer Arbeit besonders? Und warum?
Philosophisches Denken ist angstfrei und radikal rational. Im Coaching kann ich dadurch völlig gegensätzliche Positionen emotionsarm, analytisch und rein argumentativ nachvollziehen. Ich finde die Axiome, also die grundlegenden Annahmen, der unterschiedlichen Player und kann diese benennen.
Ohne Zeit auf Pseudo-Motivationen zu vergeuden, analysieren wir die Wurzeln; erst danach kommt die persönliche Bewertung. Darauf folgen Strategie und Zuordnung einzelner Themen. Das macht mich zu einer wertvollen Sparringspartnerin.
Bezüglich Führungskultur schauen wir, welche Werte in der Unternehmung handlungsleitend sein sollen. Gerade in Transformationsprozessen geben kommunizierte und gelebte Werte Stabilität in Veränderung.
Last but not least ist die persönliche Seite viel wichtiger, als wir uns oft eingestehen wollen. In vertrauensvollen Gesprächen kommen das Scheitern, das Unbehagen in Dilemmata oder die Ermüdung durch gefühlte Vergeblichkeit durchaus vor. Fruchtbar damit umzugehen, das habe ich mit den Existenzphilosophen gelernt.
Überhaupt war Philosophie in der Antike eine Art Training in Lebensführungskontingenz. Aristoteles und Co. bewegte das Thema: «Was braucht es für ein gutes Leben?» Aktueller kann Philosophie kaum sein!
Rotary steht für Werte wie Gemeinsinn, Freundschaft, Dienstbereitschaft. Was bedeutet Ihnen persönlich diese Form von Engagement?
Rotary hat einen sehr attraktiven Sinnhorizont: Völkerverständigung über religiöse und politische Grenzen hinweg. Mit den vier Werten sorgen wir dafür, diesen Sinn auch im Alltag zu verfolgen, nämlich in freundschaftlichem Miteinander Gutes zu tun.
Rotary bietet das beste Beispiel, wie eine riesige Unternehmung nicht durch das Charisma einzelner Menschen, sondern allein durch die zwei Kernelemente Sinn und Werte erfolgreich wächst. In der Transformation, die Rotary als Teil der Weltgeschichte mitmacht, wirken der klare Sinn-Horizont und unsere Werte stabilisierend. Sie geben Freiheit in der Gestaltung und Orientierung in Entscheidungen.
Das hat mich vom ersten Moment an begeistert und ich freue mich, seit fast zwanzig Jahren Teil dieser Sinn-Geschichte sein zu dürfen.
Und abschliessend: Wenn Sie den Begriff «Sinn» in einem Satz erklären müssten, wie würde der lauten?
Abstrakt: Sinn lässt mich Teil von etwas sein, das über mich selbst hinaus geht. Und konkret: Sinn motiviert mich, selbst wenn ich auch mal keine Lust habe.
Zur Person
Anette Suzanne Fintz (*1964) ist promovierte Philosophin und Führungsberaterin. Als Gründerin des ISOB – Institut für Sinn-orientierte Beratung begleitet sie seit 1998 Menschen und Organisationen in Veränderungsprozessen. Sie lehrt, schreibt, spricht – über Führung, Freiheit, Verantwortung und die Kunst, dem Leben eine Richtung zu geben. Seit 2007 Rotary-Mitglied (Mutterclub: RC A81 Bodensee-Engen), engagiert sich Anette Fintz immer wieder als Gast im RC Zürich City, insbesondere bei Hands-on-Aktivitäten.