Aktuell wird uns in grosser Deutlichkeit ein Spiegel vorgehalten, der uns offenbart, wie wir denken und handeln. Priorisierten wir in der Corona-Pandemie zum Beispiel die Volksgesundheit vor der Wirtschaft oder umgekehrt? Verfolgen wir angesichts des Kriegs gegen die Ukraine unser Geschäftsinteresse in Russland weiter oder unterstützen wir die Sanktionen? Keine einfache Aufgabe, hier eine angemessene Balance zu finden. Offensichtlich ist, dass zur Handhabung derartiger Dilemmata viel Toleranz gefordert ist.
Neue Spielräume nutzen
Bedeutsam ist, dass aus solchen komplexen Entscheidungssituationen Spielräume für konstruktiven menschlich-ethischen Fortschritt erwachsen. Diese gilt es zu erkennen und zu nutzen. Wie wir dies tun, wird von unserer Urteilsfähigkeit abhängen, was wir in einer solchen Situation für menschlich und ethisch gesehen richtig erachten und was wir meinen unterlassen zu müssen.
Gerade in Zeiten eines gesellschaftlichen Umbruchs ist es bedeutsam, dass es auf der gesellschaftlichen, aber auch auf der organisatorischen Ebene zu einem ethischen Diskurs kommt. Etablierte Moralvorstellungen verlieren hier vor dem Hintergrund einer veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit an Gültigkeit. Nun gilt es, ethisch zu klären, was gut undverantwortlich ist, was zu Recht und wohl begründet als ethisch «das Richtige tun» gelten kann. Was beinhaltet aus heutiger Sicht «das Richtige tun»? Welchen Wertvorstellungen und Überzeugungen wollen wir bei der Beurteilung der Frage folgen, was «das Richtige» ist? Welches Ethos soll unser tägliches Handeln anleiten?
Unsere moralische Urteilsfähigkeit und Entscheidungspraxis sollen durch solch einen reflexiven Diskurs besser und bewusster erlernt und ausgestaltet werden. Die Ergebnisse aus einem solchen Diskurs wirken für die Einzelnen zum einen entlastend, denn es muss nicht immer neu grundsätzlich diskutiert werden, was richtig ist; zum anderen wirkt dies aber auch identitätsstiftend, denn es stabilisiert das Zusammenleben in einer Organisation und in der Gesellschaft. Was allerdings als Herausforderung bleibt, sind die ständige Bereitschaft und Fähigkeit zur Anpassung an eine veränderte Faktenlage.
Natürlich trifft man zu ethischen Fragen in einer Unternehmenspraxis verschiedene Wertvorstellungen an, die im Alltag einer Gesellschaft mit eigenen Geltungsansprüchen koexistieren und über die sich trefflich streiten lässt. So gibt es zum Beispiel immer noch europäische Konzerne, die in ihren ausländischen Zulieferbetrieben Kinderarbeit tolerieren. In globalen Unternehmen ist es aufgrund der Vielzahl kultureller Wertvorstellungen im Alltag alles andere als einfach, einen Konsens zu finden. Doch trotzdem sollten wir ernsthaft bestrebt sein, auch hier zu einem Minimalkonsens zu gelangen, zum Beispiel was die Achtung der Menschenwürde anbelangt. Wer es nicht tut, geht immer höhere Risiken ein, die sich auch in Wertminderungen des Unternehmens niederschlagen werden.
Ökonomische und soziale Wertschaffung
Was wir brauchen, ist ein Wirtschaftsimperativ, der auch miteinschliesst, für den ethisch-menschlichen Fortschritt unserer Gesellschaft Sorge zu tragen. Wir wissen, dass die meisten Menschen von Natur aus keine Egoisten sind. Selbst in Wettbewerbssituationen orientieren sie sich an ethischen Prinzipien. Das heisst, Menschen sehen bei der Bestimmung ihres Verhaltens keineswegs nur ihren ökonomischen Nutzen. Sie sind daneben auch auf Anerkennung, Respekt und soziales Miteinander bedacht. Sie haben ein existenzielles Bedürfnis nach Einsicht in den Sinn ihres Tuns und einem Entgegenbringen von Wertschätzung. Zudem wissen sie nur zu genau, dass materieller Wohlstand keine vollständige Antwort auf die Frage geben kann, was ein gelungenes Leben ausmacht.
Will man diesen Wirtschaftsimperativ einlösen, so ist es bedeutsam, zwischen den ethischen Werten und den ökonomischen zu unterscheiden. Letztere werden durch Märkte bestimmt und können durchaus unmoralisch sein, wie beispielsweise bei Wucherei. Mit der Gesetzgebung – beim Festsetzen eines Mindestlohns – versucht man, gewisse Mindeststandards der Menschlichkeit sicherzustellen. Ethik und Ökonomie dürfen sich nicht ausschliessen, mehr noch –sie brauchen sich, denn die Umsetzung ethischer Wertvorstellungen setzt das Schaffen ökonomischer Werte voraus. Istdies nicht gegeben, dann kommt es zu Missständen wie einer rein monetären Profitorientierung, die wir mit selbstzerstörerischem Potenzial vor der Finanzkrise 2008 gesehen haben und die auch die Auswüchse der Ausbeutung unserer planetarischen Ressourcen mit zu verantworten hat.
Da jedoch jede Epoche ihre eigenen ethischen Herausforderungen hat, müssen wir uns zur Erzeugung von ethischemFortschritt durch Einsatz von Vernunft gemeinsam auf die Suche nach dem machen, was ethisch-menschliches Handeln in unserer Zeit bedeutet. Der Philosoph Markus Gabriel (2020) spricht hier in seinem Buch «Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten» von den «moralischen Tatsachen» unserer Zeit, die eine beständige situationsgerechte Konkretisierung und Ausdeutung in Raum und Zeit benötigen. Dabei müssen wir uns selbst und andere vom richtigen Handeln überzeugen: «[ Moralische Tatsachen zeigen]… was wir uns selbst als Menschen, anderen Lebewesen und der von allenLebewesen geteilten Umwelt schulden. … [Sie] teilen unser absichtliches, rational kontrollierbares Handeln in gute und böse Handlungen, zwischen denen der Bereich des moralisch Neutralen liegt. … Diese drei Bereiche – das Gute, das Neutrale und das Böse – sind die ethischen Werte, deren Geltung universal, kultur- und zeitenübergreifend ist.»
Diese Konkretisierung von «moralischen Tatsachen» können für uns einen Moralkompass dessen darstellen, was wir in einer gegebenen Situation richtigerweise tun sollen, tun dürfen oder unterlassen sollen, ohne der ethischen Ordnung zuschaden. Eine moralische Selbstverständlichkeit sollte zum Beispiel die Ablehnung von Sklaverei sein. Doch wir sehen sie immer noch in einer modernen Form wie beim Bau der Stadien zur Fussballweltmeisterschaft 2022 in Katar. Biszu 1,8 Millionen Wanderarbeitskräfte kommen dort unter menschenunwürdigen Bedingungen zum Einsatz. Bis zum Anpfiff werden etwa 7000 von ihnen ihr Leben gelassen haben.
Führung als Unterbrechung
Natürlich ist es nicht ganz einfach, in unserer heutigen Welt zu konkretisieren, was genau «moralische Tatsachen» sind. Denn in dem Mass, wie unsere heutigen Problemstellungen komplex geworden sind, ist auch komplex geworden, was ethisch-menschlich das «Richtige» tun bedeutet. Dennoch ist den meisten Führungskräften durchaus bewusst, wenn sie unethisch handeln, denn wir Menschen verfügen über eine «Stimme des Gewissens», die uns dies lehrt. Doch sie scheint uns mancherorts nicht zu kümmern. Oder man sieht keine Möglichkeit, wie man sie zur Geltung bringen kann. Oder man denkt, es sei in einer Managementrolle weder gefragt noch erwartet bzw. nicht mit den ökonomischen Zielsetzungen der Managementaufgabe vereinbar.
Führung heisst immer auch Unterbrechung: Eventuell Abstand nehmen davon, wie man etwas bisher getan hat oder wie auch alle anderen es tun. Man befindet sich in einem Dilemma: Einerseits locken weiterer Ruhm, ungeahnte neue Gestaltungsmöglichkeiten, profitables Neugeschäft usw.; andererseits besteht die Gefahr, dass man angesichts der moralischen Fragezeichen einen Teil seiner inneren Freiheit verliert. So gilt es immer wieder mit seinem Umfeld diskursiv konkurrierende Sichtweisen und Ansprüche auf deren Gültigkeit auch aus einem ethischen Blickwinkel abzuwägen, um zu langfristig tragfähigen Entscheidungen zu gelangen und mit sich selbst im Reinen zu sein. Kommt man zu einer neuen Einschätzung, so ist dies nicht ein Zeichen von Schwäche, sondern von Einsicht in neue Notwendigkeiten.
Jeder ethisch-menschliche Fortschritt beinhaltet auch, sich immer wieder auf bestimmte, geteilt wahrgenommene Wirklichkeiten zu einigen – auch wenn sie niemals gänzlich erkennbar und für jeden unterschiedlich erfahrbar sind. Bei vielen Entwicklungen unserer Zeit ist es bislang noch nicht gelungen, auch in Bezug auf unsere ethisch-menschliche Urteilskraft Schritt zu halten. Wollen wir ganzheitlichen Fortschritt in unserer Gesellschaft erreichen und dabei unsere freiheitliche demokratische Grundordnung und den sozialen Frieden erhalten, dann müssen technologischer, ökonomischer und menschlich-ethischer Fortschritt Hand in Hand gehen.
--> Günter Müller-Stewens & Eva Bilhuber Galli: Das Richtige Tun – Aufbruch zu einer menschlicheren Wirtschaft, NZZ Libro, 34 Franken
People of Action Günter Müller-Stewens wirkte seit 1991 als Professor an der Universität St. Gallen. Sein Arbeitsschwerpunkt ist das Strategische Management. Eva Bilhuber Galli führt seit über zehn Jahren ihr Beratungsunternehmen Human Facts AG, das sich auf einen partnerschaftlichen Führungsansatz für Unternehmen und Multi-Stakeholder-Projekte spezialisiert hat. Vertiefend zu diesem Beitrag sei auf das neu erschienene Buch «Das Richtige tun. Aufbruch zu einer menschlicheren Wirtschaft» der Autoren verwiesen.
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