PolioPlus: Gesundheit braucht Verbündete

Monday, December 1, 2025

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Polio ist medizinisch besiegbar, politisch jedoch gefährdet. Christian Schleuss, End-Polio-Now-Koordinator unserer Zone, erklärt, warum der entscheidende Kampf nicht im Labor geführt wird, sondern in den Machtzentren der Welt.

Es ist paradox: Die Welt ist so nah dran, Polio zu besiegen wie nie zuvor – und doch muss man mehr denn je dafür kämpfen. Für Dr. Christian Schleuss, End-Polio-Now-Koordinator für Deutschland, die Schweiz und Liechtenstein, liegt die Antwort nicht im Labor, sondern in der Geopolitik. «Aus medizinischer und technischer Sicht kann Polio vollständig ausgerottet werden», sagt er. «Poliovirus Typ 2 und 3 sind Geschichte, nur Typ 1 zirkuliert noch, hauptsächlich in Afghanistan und Pakistan.» Hinzu kommt ein weiteres Risiko: In Ländern mit niedrigen Impfquoten können abgeschwächte Impfviren mutieren und dann bei Ungeimpften wieder Lähmungen verursachen – ein Problem, das verstärkt in Abwässern Europas überwacht wird. Gerade diese beiden Länder zeigen, worum es eigentlich geht: Impfkampagnen sind kein logistisches Problem, sondern eines der Stabilität. Sobald Regierungen schwach werden, gewinnen Viren Spielraum.

Die Bilanz des Erfolgs ist beeindruckend: Vor Einführung von PolioPlus im Jahr 1985 erkrankten jährlich rund 350000 Kinder an der tückischen Krankheit. Heute geht man von weniger als hundert Fällen weltweit aus. Gleichzeitig fehlen rund sieben Milliarden US-Dollar im globalen Finanzierungstopf, um den Endspurt abzusichern – genug, um schon in wenigen Jahren ein historisches Ziel zu erreichen: Polio als zweite Krankheit nach den Pocken vollständig zu besiegen. Doch Erfolge können trügerisch sein. Abwasserfunde in europäischen Grossstädten zeigten zuletzt, wie gering die Distanz zwischen Triumph und Rückfall bleibt. «Wir dürfen uns nicht einlullen lassen», warnt Schleuss. Nutzt man die letzten Jahre nicht, könnte die Kinderlähmung zurückkehren – und im schlimmsten Fall wieder jährlich bis zu 200000 Kinder lähmen.

Türöffner statt Zaungast: Die besondere Rolle von Rotary

Rotary ist im Kampf gegen Polio mehr als ein Sponsor. Die Rotarier öffnen Türen, wo politische Zugänge versperrt sind, und schaffen Raum für medizinische Teams in Krisengebieten. Diese Türöffnerrolle hat oft über Impfkampagnen hinaus Wirkung entfaltet; sie bringt Gesprächspartner an einen Tisch, die sich sonst nicht begegnen würden. «Wir leisten damit nebenbei auch Friedensarbeit», erklärt Schleuss. Es ist der stille Teil der Bilanz, der selten auf Plakaten steht, aber ohne den der Fortschritt nicht möglich wäre.

Und die Schweiz? Und Liechtenstein? Beide Länder sind poliofrei, doch Immunität ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Wer weniger impft, erhöht das Risiko. Die Pandemie hat gezeigt, wie schnell Impfbereitschaft bröckelt, wenn Krankheiten aus dem Blick geraten. Die rotarischen Aktivitäten rund um den Welt-Polio-Tag, vom WHO-Besuch in Genf über die Sensibilisierung in Vaduz bis hin zum KKL-Konzert in Luzern, sollen genau das verhindern: dass eine Krankheit erst dann sichtbar wird, wenn es zu spät ist.

Als geduldiger Optimist glaubt Schleuss an die Kraft der internationalen Gemeinschaft. Sein Zeitplan ist klar: «Wenn wir jetzt dranbleiben, wenn politischer Wille und Finanzierung zusammenkommen, dann können wir 2029 oder 2030 sagen, dass Polio Geschichte ist.» Bis dahin gilt: Wachsamkeit ist die letzte Impfdosis.


Polio ist medizinisch besiegbar, politisch jedoch gefährdet