Die Rotarierin Sandrine Ambigapathy wurde schon früh vom «Fernweh-Virus» gepackt. Sie blickt darum auf eine sehr vielfältige und abwechslungsreiche berufliche Laufbahn zurück, die sie selbst als «anarchisch» bezeichnet. Die dynamische Direktorin der OrTra Neuenburg Gesundheit und Soziales legt Wert auf eine sinnstiftende Arbeit, in der sie sich einbringen kann. Die gebürtige Französin ist heute eine begeisterte Botschafterin der Schweizer Berufsbildung.
In Sandrine Ambigapathys Büro liegt ein kleines gemütliches Bett auf dem Boden, auf dem Computerbildschirm streckt dessen Bewohner den Besuchern keck seine Schnauze entgegen: Oscar, ein Rauhaardackel, nimmt ganz offensichtlich einen wichtigen Platz im Leben der Direktorin der OrTra Neuenburg Gesundheit und Soziales ein. «Ja, Oscar ist mein treuer Begleiter», sagt sie strahlend und fügt hinzu, dass sie Tiere schon immer geliebt hat. Zwei Hunde und eine Katze gehören zu ihrem Haushalt. Sandrine, heute Mutter von drei erwachsenen Kindern, hat nach ihrem Studium der modernen Literatur an der Pariser Universität Sorbonne ohne zu Zögern Ja gesagt zu einem Schutzprojekt für Lederschildkröten in Costa Rica. In liebevoller Erinnerung erzählt sie von den unvergesslichen Momenten in mondhellen Nächtrn, wenn die imposanten Tiere aus dem Wasser kriechen und langsam den Sand hinaufklettern, um ihre Eier zu legen. Die Schönheit ihrer Erzählung kontrastiert mit der Grausamkeit einer Realität, die Sandrine in sachlichem Ton und ohne jegliche Wertung beschreibt: Die Lederschildkröte, die grösste Schildkrötenart, ist nicht nur als Folge der Verschmutzung der Meere und durch Fischernetze vom Aussterben bedroht. Wilderer schlitzen den Tieren den Bauch auf, um die Eier zu entnehmen und zu verkaufen, da diese als Aphrodisiakum gelten. „Ich kann diesen Männern keinen Vorwurf machen. Sie versuchen, ihre Familien zu ernähren“, kommentiert Sandrine.
Protest allein reicht nicht
Die gebürtige Französin, die seit 2002 in der Schweiz lebt und arbeitet und seit September 2022 Mitglied des Rotary Clubs Neuchâtel ist, zitierte bei ihrem Klassifizierungsvortrag einen Satz von Victor Hugo: „Es kommt eine Zeit, in der Protest nicht mehr ausreicht: Auf die Philosophie muss die Tat folgen.“
Sandrines Vorliebe für Taten spiegelt sich sowohl in ihrer dynamischen und fröhlichen Persönlichkeit als auch in ihrem Lebensweg. In Costa Rica half sie einer Freundin, ein Grundstück zu kaufen, ein Museum für Lederschildkröten einzurichten, Touristen zu empfangen, die die Tiere beim Eierlegen beobachten wollten, und lokale Führer einzustellen, um durch diese bezahlte Arbeit Wilderei zu verhindern. Sandrine erzählt, dass es sie reizte, sich für den Tierschutz zu engagieren und ein Museum von Grund auf aufzubauen – von der Beschaffung der finanziellen Mittel bis hin zur Bereitstellung der technischen und wissenschaftlichen Ausstattung.
Humanitäre Hilfe als Selbstverständlichkeit
Später entwickelte Sandrine ein humanitäres Projekt, um Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen. Die Schule ist in Costa Rica zwar gratis, aber die Kosten für die obligatorische Schuluniform übersteigen das Budget vieler Eltern bei weitem. Sie lancierte noch ein Projekt zur Empfängnisverhütung und erzählt von Rosa, einer Mutter, die eines ihrer elf Kinder verkaufen musste, um die anderen ernähren zu können. Sandrine seufzt: „Man kommt in ein Land und denkt, man könne die Welt retten. Aber man merkt schnell, dass man nicht alle Schlachten schlagen kann.“ Sie liess sich von dieser Erkenntnis nicht entmutigen, denn das Engagement für humanitäre Zwecke ist ihr ohnehin seit ihrer Kindheit vertraut; ihre Eltern hättem immer viel für wohltätige Zwecke gespendet, erzählt sie.
Sandrine, die in Paris in der Beschaffungsabteilung von Degrémont, einem Unternehmen der Suez-Gruppe, arbeitete, wurde bei ihren Engagements auch von ihrem Arbeitgeber unterstützt. Er erlaubte ihr, rund vier Monate im Jahr für ihre Aktionen in Costa Rica zu arbeiten, und verdoppelte zusätzlich die von ihr gesammelten Spenden. Fragt man Sandrine, in welchen Jahren genau sie was gemacht hat, zögert sie einen Moment und schmunzelt, während sie in Gedanken ihren Lebenslauf Revue passieren lässt. Tatsächlich hatte sie sich schon vor ihrer Zeit in Costa Rica vom «Fernweh-Virus» anstecken lassen und war nach ihrem Studium als Au-pair nach Kanada gegangen. Anschliessend engagierte sie sich beim Aufbau eines Ingenieurbüros für für die Wasserversorgung eines Hotelkomplexes der GMF-Versicherung auf den Niederländischen Antillen und arbeitete im Bereich Innenarchitektur in Toulouse. 2003 kam sie in die Schweiz und übernahm die Verwaltung und das Personalwesen des Instituts Perce-Neige, einer Stiftung für behinderte Kinder.
Begeistert vom Schweizer System
Die Schweiz? Das Land war ihr bereits vertraut, da sie dort seit ihrer Kindheit ihre Ferien verbracht hatte. Mit ihrem Mann, einem Schweizer mit indischen Wurzeln, zog sie nach Neuenburg. Wenn Sandrines Familie nach Indien reist, engagiert sie sich wieder ganz selbstverständlich für humanitäre Zwecke vor Ort. «Ich warte auf die Pensionierung, um mehr zu tun», sagt sie. Bevor es soweit ist, wird die 1966 Geborene noch einige Jahre arbeiten und sich vor allem weiterhin mit Leidenschaft im Bereich der Berufsbildung engagieren. Sandrine, die selbst eine akademische Ausbildung in Frankreich durchlaufen hat, ist «begeistert vom Berufsbildungssystem der Schweiz». Zwei ihrer drei Kinder haben übrigens das Gymnasium abgebrochen, um eine Berufslehre zu beginnen. Sie ist darüber nicht unglücklich. Denn sie ist überzeugt, dass die Kombination aus Theorie und Praxis unsere Gesellschaft dynamisch bleiben lässt. Und sie betont, dass die Durchlässigkeit der Schweizer Berufsbildung den Weg von einer Berufslehre zu einem Hochschulstudium ebnen kann.
Verbindung zur Arbeitswelt
Die Organisation der Arbeitswelt, OrTra Gesundheit und Soziales, ist ein Verein, der die Ausbildung in den Fachbereichen Gesundheit und Soziales von der Sekundarstufe II bis zur Tertiärstufe B in allen Kantonen gemäss dem Bundesgesetz über die Berufsbildung unterstützt und koordiniert. Ihre Aufgabe besteht darin, die Relevanz der Ausbildung in einer sich wandelnden Berufswelt sicherzustellen und dafür zu sorgen, dass die zukünftigen Fachkräfte den tatsächlichen Bedürfnissen der Unternehmen und der Gesellschaft entsprechen. «Wir stellen die Verbindung zwischen Ausbildung und Arbeitswelt sicher», erklärt die Direktorin. Sie nennt ein Beispiel: Die Mehrheit der alternden Schweizer Bevölkerung möchte so lange wie möglich zu Hause wohnen bleiben. Um ältere Menschen zu betreuen, müssen jedoch alle Akteure in diesem Bereich koordiniert und mit qualitativ hochwertigen und ausreichenden Ausbildungsangeboten versorgt werden.
Präsidentin der Berufsbildungsmesse
Als man sie 2018 bat, den Vorsitz von Capa'Cité zu übernehmen, der alle zwei Jahre stattfindenden Berufsbildungsmesse des Kantons Neuenburg mit einem Budget von einer Million Franken, die in einer Woche rund 80 000 Besucherinnen und Besucher und 4500 Schüler anzieht, nahm sie die Herausforderung gerne an und erklärte, sie sei stolz, einen Beitrag zur Steigerung der Qualität der beruflichen Bildung in der Schweiz leisten zu können. 200 Berufe werden von 1000 Fachleuten und Lernenden vorgestellt. «Indem wir den Alltag eines Berufs zeigen, wollen wir das Interesse der Jugendlichen wecken und sie dazu anregen, Berufe zu entdecken, die sie vielleicht nicht sofort in Betracht gezogen hätten», fasst Sandrine zusammen. Ihren eigenen Berufsweg bezeichnet sie als «anarchisch». Und doch lässt sich ein roter Faden erkennen: ihre Neugier, die Welt und die Menschen zu entdecken, etwas zu bewegen und sich an ihrem Platz gebraucht zu fühlen. Sie bekräftigt: «Ich muss mich einbringen und meiner Arbeit einen Sinn geben können.» Das Gleiche wünscht sie auch jungen Menschen, die heute auf der Suche nach ihrem beruflichen Weg sind.
Mit Rotary scheint sich der Kreis ihres Engagements zu schliessen. Denn jene Person in dem Pariser Unternehmen, die ihre Spendensumme für Costa Rica verdoppelte, war Mitglied des Rotary Clubs La Défense. Ihr Engagement im RC Neuchâtel sieht sie daher auch als eine Möglichkeit, etwas von dem zurückzugeben, was sie einst für Costa Rica erhalten hat. Es überrascht auch kaum, dass sie in ihrem Club den Vorsitz der Bounty-Kommission innehat, die den Kontakt zu jungen Rotariern pflegt. Zeigt sich hier ihre fürsorgliche Ader? Sandrine, die uns erzählt, dass sie gerne täglich kocht, weil sie «gerne Menschen mit Essen versorgt» , würde hier wohl nicht widersprechen.