Jean-Luc Follonier, Opernsänger und Gesangslehrer, ist eher zufällig in diesen Beruf geraten, mit einem Diplom und einer Virtuosität, aber ohne jeglichen Karriereplan. „Singen war für mich eine Möglichkeit zu existieren“, erklärt dieser Rotarier des RC Sion bei einem Gespräch am Walliser Konservatorium.
Wie wichtig ist Musik in Ihrem Leben?
Lebenswichtig! Ich hatte das Glück, als Kind in der Schola des Petits Chanteurs in Sitten mitzuwirken, einem Kinderchor, der unserer Region noch heute einen enormen musikalischen, kulturellen und sozialen Nutzen bringt. Das ist eine der Stärken der Musik: Sie schafft soziale Bindungen zwischen Menschen und Gruppen.
Sind wir alle von Natur aus empfänglich für Musik?
Ganz klar ja. Musik spricht jeden an und tut gut, sogar auf unbewusste, instinktive Weise. Der Ausdruck von Rhythmus war schon in den frühesten Gesellschaften ein Grundbedürfnis. Dank wissenschaftlicher Studien wissen wir heute um die Vorteile von Musik, insbesondere für die Entwicklung des Gehirns von Kindern. Es wurde nachgewiesen, dass das gesamte Gehirn aktiviert wird, sobald ein Geigenspieler zu spielen beginnt. Das bedeutet jedoch nicht, dass jeder Mensch für denselben Musikstil empfänglich ist, und sei es nur aufgrund seiner Erziehung. Jemand, der noch nie Barockmusik gehört hat, hat vielleicht grössere Schwierigkeiten, sich in diese Musik hineinzufinden.
Sie hingegen haben sich schon immer für Barockmusik interessiert?
Ja, Renaissance und Barock, diese Musik sprach mich an. Als Teenager schwamm ich gegen den Strom meiner Freunde. Ich war sehr sportlich, aber was mich zum Träumen brachte, war, in die Basilika von Valère zu gehen, die Tag und Nacht geöffnet war, Partituren zu entziffern und sie mit meinen Freunden zu singen. Heute bedauere ich ein wenig meine Lücken in Rock, Jazz usw., aber ich arbeite daran! Freddy Mercury ist ein Musiker, den ich bewundere, die Beatles sind grossartig
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die Liste liesse sich endlos fortsetzen.
Sind Sie in einer Musikerfamilie aufgewachsen?
Ganz und gar nicht. Aber mein Vater, der in den 50er Jahren an der Sorbonne studierte, freundete sich mit einem anderen Walliser an, der sich ebenfalls in Paris ausbilden liess, um die besagte Schola zu übernehmen. Mit fünf Jahren wurde ich in diesen Chor aufgenommen, mit 13 Jahren wollte ich unbedingt aussteigen und nur noch Fussball spielen
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ein Jahr später hätte ich alles aufgegeben, nur nicht diesen Chor! So fing mein Weg an. Wir sangen alle Meister der Renaissance und ihr umfangreiches Repertoire. Diese Erfahrung berührt, formt und spricht das Herz eines Teenagers an, der auf der Suche ist. Dasselbe gilt für meine Entdeckung der Sinfonie "Aus der Neuen Welt"...
War es für Sie also von Anfang an klar, dass Sie Sänger werden wollten?
Oh nein, überhaupt nicht. Ich hatte ein Pharmaziestudium begonnen. Im dritten Semester verabschiedete ich mich im Labor Sang auf Klang von meinen Kollegen und teilte ihnen mit, dass ich aufhöre. Sie hielten das für eine Laune, aber es war keine. Ich war entdeckt worden und man hatte mir geraten, an meinem Gesang zu arbeiten, und so begann ich in Freiburg mit dem Unterricht. Aber ich dachte nicht daran, dass das eines Tages mein Beruf werden würde. Ich studierte an der Fakultät der Geisteswissenschaften und besuchte nebenbei das Konservatorium. Ohne Karriereplan fand ich mich in diesem Beruf wieder, erlangte ein Diplom und dann eine Virtuosität. Man hörte mich singen und bot mir Engagements für Konzerte und Opern an.
Wow, so konnte eine Karriere also auch schon vor dem Zeitalter von Social Media beginnen!
Ja, das war bei mir der Fall, zu meinem Glück. Heute ist das technische Niveau von Profimusikern sehr hoch, und die Karrierewege sind stärker kodifiziert. Aber es gibt immer noch keine Erfolgsgarantie. Um sich in diesem Beruf von der Masse abzuheben, muss man das gewisse Etwas haben.
Sie haben es also, das gewisse Etwas! Wie würden Sie es beschreiben?
Als Musiker gehöre ich nicht zu denjenigen, die behaupten, dass man alles mit rationalen Worten beschreiben kann. Musik drückt genau das aus, was Worte nicht ausdrücken können; sie ist wie Poesie, sie deutet an. Ich glaube, ich hatte das Glück, über ein gutes Gespür für die Stimme und einen musikalischen Instinkt zu verfügen. Aber Singen war für mich ein Hilferuf, eine Möglichkeit, inmitten unterbewusster Kämpfe zu existieren. Entweder zieht das jemanden hinunter oder es gibt ihm eine gewaltige Energie. Diese Energie ist auf der Bühne spürbar und reisst das Publikum mit, das sich oftmals darin wiedererkennt.
Apropos Talent: Kann jeder singen lernen?
Ja, und jeder sollte singen, weil es so gut tut! Natürlich braucht man Talent, um weiterzukommen, aber der Weg hängt auch davon ab, ob sich jemand entwickeln kann, vom Fleiss an der Arbeit, von der Lehrperson usw. Und auch ein bisschen vom Glück.
Was sagen Sie jemandem, der heute eine Karriere als Opernsänger anstrebt?
„Wenn Sie garantiert Arbeit haben wollen, gehen Sie in die Medizin“. Man muss schon ein bisschen verrückt sein, um von der Musik leben zu wollen. Ein französischer Professor sagte mir vor vierzig Jahren, dass er seine Studenten jeweils abschrecke, weil dann nur diejenigen diesen Weg einschlagen würden, die ihn wirklich unbedingt wollten. Es ist ein Weg ohne Garantie, dessen muss man sich bewusst sein. Ich bin ein schlechtes Beispiel, weil ich mich nie um meine Karriere gekümmert habe. Die wirtschaftliche Realität ist das Eine, die Liebe zur Musik das Andere. Aber letztendlich geht es nicht um eine erfolgreiche Karriere, sondern um ein erfolgreiches Leben, nicht wahr?
Haben Schweizer Künstler eine Chance im Vergleich zur russischen Konkurrenz, wo die Kinder schon sehr früh Musikunterricht erhalten?
Es gibt immer eine Chance - wenn man etwas zu sagen und weiterzugeben hat. Man kann zehn Personen für eine Rolle in einer Oper vorsingen lassen. Alle sind gleichermassen gut, aber die Wahl wird auf diejenige fallen, die durch ihre Persönlichkeit und ihre Ausstrahlung aus der Masse heraussticht.
Es ist Winter, die Jahreszeit der Erkältungen! Die grösste Angst eines Sängers?
Ich musste in meiner Karriere nur ein einziges Mal vertreten werden. Vielleicht ist das die Ungerechtigkeit der Natur? Ich habe allerdings auch beobachtet, dass diejenigen, die immer auf alles achten, oftmals dann die sind, die krank werden. Klar, man muss auf seine Gesundheit achten, schliesslich ist der Körper unser Instrument. Aber dabei sollte der gesunde Menschenverstand nicht vergessen gehen.
Kann die Stimme altern?
Die Stimme existiert nicht als materielles Organ. Sie ist das Ergebnis einer Handlung. Das „Material“ kann natürlich schlecht altern, vor allem, wenn es falsch behandelt wurde. Wenn man an die Stimmbänder zu stark beansprucht, werden sie beschädigt, seine Stimme zu trainieren ist Körperarbeit. Ich habe einen 80-jährigen Schüler, dessen Stimme beeindruckend ist. Dank der technischen Beherrschung kann sich die Stimme mit den Jahren weiter verbessern. Das ist zwar nicht unbegrenzt möglich, aber mit zunehmendem Alter lernt man, seinen Körper besser einzusetzen.
Zum Schluss noch diese Frage: Wie sind Sie zu Rotary gekommen?
Über einen Jugendfreund, den ich über die Musik kennengelernt hatte; meinen zweiten Paten lernte ich in einem Kulturausschuss kennen. Ein Beispiel für die eingangs erwähnte Stärke der Musik für soziale Bindungen: Ich war über 30 Jahre lang nicht mehr in Sitten gewesen! Dieser Freund hatte einmal zu mir gesagt, dass sich die Beziehung zwischen zwei Menschen an dem Tag, an dem sie nebeneinander singen, für immer ändert. Warum das so ist? Sie geben mit Ihrer Stimme einen tiefliegenden Teil Ihrer Persönlichkeit preis. Das ist sehr intim.
Musik in der Schule
Jean-Luc Follonier hat an den Konservatorien von Freiburg und Wallis sowie an der Musikhochschule Waadt-Wallis-Freiburg unterrichtet. Am Konservatorium Wallis, wo wir dieses Gespräch mit ihm führten, machten wir auch Bekanntschaft mit seinem Direktor Thierry Debons, der ebenfalls Mitglied des Rotary Clubs Sitten ist. Debons ist Schlagzeuger und betont die positiven Auswirkungen des Musikunterrichts auf die kindliche Entwicklung, die durch zahlreiche Studien belegt sind - und beklagt, dass es sich dabei um das "am meisten vernachlässigte" Fach in den Lehrplänen handelt. "Feinmotorik, Bewegungskoordination, Konzentration, Zuhören, Gedächtnis, soziale Kompetenz, Reden vor Publikum, Selbstvertrauen, mathematische Logik gehören zu den Elementen, die durch das Musizieren gestärkt werden. Es gibt kein anderes Schulfach, das alle diese Fähigkeiten gleichzeitig fördert. Musik fördert genau die Fähigkeiten, die in der heutigen Gesellschaft von Mitarbeitenden verlangt werden, am stärksten“.
Jean-Luc Follonier weist seinerseits auf eine Besonderheit im Bereich Gesang hin, dessen Unterricht viel später beginnt als bei den Instrumenten, wo Kinder bereits mit fünf oder sechs Jahren mit dem Ler.nen anfangen Seit das Schweizer Volk 2012 den neuen Verfassungsartikel zur Jugendmusikförderung angenommen hat, subventionieren die Kantone das Schulgeld für Jugendliche bis 18 Jahre bzw. bis 25 Jahre im Falle von Studium und Ausbildung. Die Gemeinden beteiligen sich je nach Kanton mehr oder weniger stark an den Kosten. Der Zugang zu finanzieller Unterstützung ist also für alle Instrumente vorhanden, vorausgesetzt, dass man in den Genuss von institutionellen Zuschüssen kommt. „Die Diskriminierung beim Singen entsteht dadurch, dass die Anzahl subventionierter Jahre im Vergleich verschwindend klein ist, und dass die finanzielle Unterstützung zu einem Zeitpunkt gekürzt wird, an dem die betroffenen Schüler sie am dringendsten benötigten.“