«PSYCHIATRIE BRAUCHT SYSTEMATIK UND EMOTIONEN»

Montag, 20. November 2023

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Gregor Hasler ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Freiburg, Chefarzt und Leiter der psychiatrischen Forschungsabteilung des Freiburger Netzwerks für Psychische Gesundheit, Autor und Rotarier des RC Bern. Im Gespräch über mentale Gesundheit erzählt er auch, warum er statt Lehrer oder Informatiker Psychiater geworden ist.

Herr Hasler, waren Sie schon einmal an einer Mad Pride?

Nein, aber solche Veranstaltungen können sicher sinnvoll sein. Der Gang an die Öffentlichkeit ist ein Weg, mit einer psychischen Krankheit umzugehen: Diese Menschen stehen zu ihrer Identität, die sie auch über ihre Krankheit definieren, werden politisch aktiv und fordern ihre Rechte ein. Andere Betroffene möchten ihre Krankheit lieber für sich behalten, weil sie befürchten, stigmatisiert zu werden. Arbeitgeber denken fälschlicherweise, «wer einmal ein Burnout hatte, wird es immer wieder haben». Partner stellen Bedingungen wie «ich heirate dich erst, wenn du die Therapie beendet oder das Medikament abgesetzt hast». 

Warum werden ausgerechnet psychische Krankheiten so stark stigmatisiert?

Die gesellschaftlichen Erwartungen an unsere «psychische Fitness» sind gewachsen. Unsere Dienstleistungsgesellschaft erwartet von den Beschäftigten, dass sie stets in optimaler Verfassung sind, präsent für die Wünsche der Kundschaft. Wer in anderen Sektoren arbeitet, beispielsweise in der Landwirtschaft, steht weniger unter Beobachtung. Psychische Erkrankungen nehmen nicht zu, aber sie fallen als Folge des sozioökonomischen Wandels rascher ins Auge und werden blossgestellt. Für Arbeitgeber sind sie ein wirtschaftliches Problem; Angestellte, die psychisch weniger fit sind, können schlechter eingesetzt werden. Für Betroffene ist es schwieriger, eine Stelle zu finden. 

Werden Betroffene vor allem im Berufsleben stigmatisiert?

Die Ansprüche sind auch im Privatleben gewachsen. Die Standards beispielsweise in der Kindererziehung sind sehr hoch. Von Eltern wird heute erwartet, dass sie Kindern gegenüber stets aufmerksam und aufwertend begegnen.

Seit der Covid-Pandemie weiss man, dass mehr Jugendliche psychologische oder psychiatrische Behandlung brauchen.

Das Berufsleben bietet eine Struktur, die Schule ebenfalls. Die Schulschliessungen im Zuge von Covid hatten zur Folge, dass den Jugendlichen die Tagesstruktur abhandenkam. Wer allein ist und zudem ohne Struktur, braucht mehr Eigenmotivation, und diese können nicht alle Menschen gleichermassen aufbringen. Dazu kamen Konflikte in der Familie, die plötzlich den ganzen Tag zusammen war. Es ist gesünder, wenn man sich nicht ständig sieht. Psychiatrische Kliniken sind häufig der Ort, der genau solche Tagesstrukturen bietet. 

Im Zusammenhang mit Covid war häufig auch von kollektiver Angst die Rede.

Studien haben gezeigt, dass die Angst vor dem Virus insbesondere bei Jungen gering war.

Die Suizidrate geht in der Schweiz seit den 1980er-Jahren zurück, trotzdem sterben in der Schweiz jeden Tag etwa drei Menschen durch Suizid. Suizide gehören nach Angaben des Bunds nach Krebs- und Kreislauferkrankungen zu den häufigsten Gründen für frühzeitige Sterblichkeit.

Es wird viel gemacht in der Schweiz, wobei die Wirksamkeit nicht bei allen Kampagnen wissenschaftlich erwiesen ist. Depressionen, häufig der Auslöser für einen Suizid, gehören zu den am schwersten zu ertragenden Krankheiten. Die klinische Psychiatrie müsste mehr Forschungsmittel vom Staat und von Stiftungen erhalten; die Industrie fokussiert ihre Forschung zunehmend auf Krankheiten Krebs und Diabetes, wo die Erfolgschancen grösser sind als bei Hirnkrankheiten. 

Wie steht es um die psychische Gesundheit der älteren Bevölkerung?

Aus Befragungen wissen wir, dass das Wohlbefinden mit zunehmendem Alter steigt: 70-Jährige fühlen sich glücklicher als 60-Jährige. Ältere Menschen fühlen sich weniger rasch einsam als Jüngere, können besser mit dem Alleinsein umgehen, besser allein wohnen, sie kennen sich, kontrollieren ihre Impulse besser. Gerade in der Schweiz, die über die Sozialversicherungen eine starke finanzielle Umverteilung zu Gunsten der älteren Generation kennt, ist das Alter häufig eine fantastische Phase, weil Zeit, Ideen und oft auch Geld vorhanden sind. Dieses Wohlbefinden nimmt erst mit dem Auftreten von körperlichen Beschwerden ab. Die Alterspsychiatrie ist vor allem mit Demenzerkrankungen konfrontiert. Dabei ist zu sagen, dass diese zwar in absoluten Zahlen zunehmen, weil es immer mehr ältere Menschen gibt, proportional aber zurückgehen. 

Werden wir künftig weiterhin so alt? In der heutigen Generation scheint vor allem Übergewicht ein Problem.

Die Problematik des Übergewichts nimmt wieder ab, auch der Tabak- und Alkoholkonsum ist im Vergleich zu früher zurückgegangen. Die Menschen leben also gesünder. Hingegen ist der Konsum von industriell verarbeiteten Lebensmitteln ein echtes Problem geworden. Die Zunahme von Übergewicht, Diabetes und Autoimmunkrankheiten sind die Folge davon.

Der Präsident von Rotary International, Gordon McInally, sagte, sein Bruder habe Suizid begangen, weil psychische Erkrankungen in der Gesellschaft ein Tabu seien und zudem der Zugang zur medizinischen Versorgung fehle. Hat er Recht?

Für gewisse Länder, auch die USA, stimmt das wohl. Die Schweiz indes hat eine der höchsten Dichten an Psychiatern, es gibt zudem Privatkliniken und Kurhäuser, die in der Schweiz Tradition haben. Problematischer wird es, in Zukunft genügend Nachwuchs zu finden. Bei den psychiatrischen Pflegeberufen haben wir jetzt schon einen deutlichen Mangel.

Die Schweiz hat demnach genügend Ressourcen, um die Bedürfnisse der Bevölkerung abzudecken?

Es werden Klinken zur Behandlung von Burn-out gebaut, die Zahl der Betten in psychiatrischen Kliniken steigt. Hingegen werden wenig Mittel in die Kinderpsychiatrie investiert. Angesichts der Tatsache, dass die psychische Fitness wie erwähnt an Bedeutung gewinnt, notabene im Berufsleben, müsste die psychische Betreuung bereits früher ansetzen. 

Sie sprechen die Schule an?

Natürlich gibt es gut Ansätze in der Schule. Es gibt integrative Klassen, die gegen die Stigmatisierung helfen können, Schulpsychologen, Sozialpädagogen. Aber: Der Schule gehen die Lehrkräfte aus. Viel zu viele Reformen, deren Wirksamkeit nicht wissenschaftlich erhoben ist, werden «von oben herab» verordnet und folgen sich in grossem Tempo, Lehrmittel werden ausgewechselt – das ist sehr anstrengend und kann engagierte Lehrerinnen und Lehrer demotivieren. In der Medizin wäre so etwas nicht möglich, da braucht es immer einen Wirksamkeitsnachweis.

Darum sind Sie Mediziner geworden und nicht Lehrer?

Meine Mutter war Lehrerin, mich hätte dieser Beruf ebenfalls interessiert. Aber es wäre mir sehr schwergefallen, als Lehrer «Versuchskaninchen» für Reformen und ungeprüfte neue Lehrmittel zu sein. Für die systematische Forschung von Interventionen ist die Medizin erste Wahl. Ich war zwar auch an Informatik interessiert, habe früh selbst programmiert. Doch in der Psychiatrie kommt eine intrinsische Motivation hinzu, hier geht es auch um Emotionen, das Zwischenmenschliche. Schon als Pfadileiter beschäftigten mich die persönlichen Schicksale der Heimwehkinder. Mir wird es bei Vielem schnell langweilig, doch bei meinen Patienten passiert mir das nie. Da bin ich an einer zentralen Stelle, tue etwas Nützliches – Helfen kann sehr befriedigend sein. 

Wie kamen Sie zu Rotary?

Durch einen Zufall. Ich sass auf einem Flug neben einem Schweizer Augenarzt, mit dem ich rasch ins Gespräch kam. Für mich ist das heute noch typisch für Rotary, diese Offenheit, das Interesse über das eigene Gebiet hinaus. Er hat mich zu einem Vortrag über «Psyche und Politik» zum RC Oerlikon eingeladen, dort wurde ich schon mit 30 Mitglied. Später, als ich die Professur in Bern antrat, wechselte ich zum RC Bern.

Und da sind Sie heute noch Mitglied, obwohl Sie in Villars-sur-Glâne arbeiten und Professor an der Uni Freiburg sind.

Ja, ich wohne weiterhin in Bern. Nahe Freunde sind wichtig für die Resilienz, Zügeln ist belastend für die Psyche, darüber schreibe ich auch in meinem Buch «Resilienz: Der Wir-Faktor».


Zur Person

Rot. Gregor Hasler (RC Bern) ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Freiburg, Chefarzt und Leiter der psychiatrischen Forschungsabteilung des Freiburger Netzwerks für Psychische Gesundheit. In seinem Bestseller «Die Darm-Hirn-Connection» zeigt er auf, dass körperliches und psychisches Wohlbefinden stark von der Gesundheit unseres Darms abhängt.


Rot. Gregor Hasler