ALZHEIMER – ODER: DER LANGSAME ABSCHIED EINER MUTTER

Montag, 20. November 2023

Rot. Werner Vogt

150000 alte Menschen in der Schweiz leiden unter Alzheimer oder einer anderen Demenzerkrankung. Alle 16 Minuten kommt ein neuer Fall dazu. 2050 werden es mehr als doppelt so viele sein. Gemäss einer Studie aus dem Jahr 2019 verursachen diese Krankheiten jährlich Kosten von fast zwölf Milliarden Franken. 

Doch Statistiken sind eine Sache. Was es im Detail heisst, wenn ein Familienmitglied an Alzheimer erkrankt, können nur jene wissen, die es selber erlebt haben. Und dies ist eine Erfahrung der härteren Art, eine Belastungsprobe, die jeden Betroffenen an die Grenze seiner Kraft und Nerven bringt. Sonja Reynaud hat ihre Erfahrung mit dem Autor geteilt. Eine Erfahrung, die sie jahrelang an die Grenzen ihrer Belastbarkeit brachte – und weit darüber hinaus.

Sonja Reynaud – ihr richtiger Name ist der Redaktion bekannt – ist 60 Jahre alt, berufstätig im öffentlichen Dienst und Mutter zweier erwachsener Kinder. Sie ist stark, leistungsorientiert und hat als Frohnatur mit einer gesunden Portion Schalk ein positives, mitreissendes Naturell. Sie wuchs in der Innerschweiz auf und landete später aus familiären Gründen im ländlichen Kanton Thurgau. Ihre damals bereits pensionierten Eltern liessen sich ebenfalls dort nieder im kleineren Teil des Doppeleinfamilienhauses, das Sonja mit ihrer Tochter und ihrem Sohn und anfänglich noch mit ihrem Ehegatten bewohnte. Hier spielte sich auch das Drama – und das Wort ist keine Übertreibung – rund um die Demenzerkrankung ihrer Mutter Emma (Name geändert) ab. 

Sonja pflegte ihre Mutter bis wenige Monate vor deren Tod im Sommer 2018. Emma wurde 88 Jahre alt. Die letzten acht Jahre ihres Lebens litt Emma unter einer Alzheimererkrankung, deren Ursprung wie in den meisten Fällen im Dunkeln liegt, wobei mehrere leichte Schlaganfälle, die zweifelsfrei nachgewiesen werden konnten, und diverse operationsbedingte Narkosen sicher nicht hilfreich waren. Wie Sonja ausführt, entwickelte sich die Krankheit ihrer Mutter schleichend: Von der leichten Vergesslichkeit (Schlüssel, Portemonnaie, Bancomat-Karte), wie sie vielen älteren Menschen eigen ist, mutierte das Verhaltensspektrum von Emma über Angststörungen, Verzweiflungsanfälle und unbändige Wut bis hin zu Gewalt – notabene immer nur gegen Sachen in der eigenen Wohnung, niemals gegenüber Menschen. Ohne eine Spur von Bitterkeit oder Selbstmitleid, durchaus aber mit allen Emotionen einer Tochter, die ihre Mutter liebte, schildert Sonja die letzten beiden Lebensjahre von Emma folgendermassen:

«Meine Mutter schrie uns und vor allem mich bei fast jedem Abendessen an und machte uns absurde Vorwürfe. Sekunden später brach sie in Tränen aus. Dies alles überforderte meine beiden Kinder, damals im Teenageralter, masslos, zumal die Beziehung zwischen meinem Ehemann und mir ebenfalls nicht mehr im Lot war. Wenn meine Mutter dann allein bei sich zuhause war, also nebenan, hörten wir sie schreien und fluchen. Sie knallte immer wieder Türen zu oder warf Bilder oder Fotos zu Boden, deren Glasscheiben wir klirren hörten. Sodann hatte sie vor zwei Dingen panische Angst. Erstens: bestohlen zu werden, beispielsweise von der Putzfrau oder von jemand anderem in ihrem kleinen Umfeld. Und zweitens: ins Altersheim abgeschoben zu werden. 

Wir alle waren von der Situation stärkstens gefordert und oft auch überfordert. Es kam auch zu grotesken Situationen in der Kommunikation: Wenn wir meine Mutter zu beruhigen versuchten, zum Beispiel bei ihren Ängsten, bestohlen zu werden, dann konnte sie einen sprichwörtlich zur Verzweiflung bringen mit äusserst intelligenten und schlagfertigen Repliken, die unsere Beruhigungsversuche zunichtemachten. Unsere Versuche mit Ablenkungsstrategien bei Wutanfällen pulverisierte sie sehr oft mit wenigen Worten. Es war zum Verrücktwerden.»

Die Ursprünge einer Alzheimererkrankung erklären zu wollen, ist ein müssiges Unterfangen, da man sich im Feld der reinen Spekulation befindet. Trotzdem sei die Frage erlaubt: Wie kam es dazu, dass eine liebenswerte und fürsorgliche Mutter sich fundamental ändert und zu einer anderen, fremden und befremdenden Persönlichkeit wird? Hierzu bemerkt Sonja zwei Dinge: Erstens, ihre Eltern seien ein harmonisches Ehepaar gewesen und hätten nach der Pensionierung restlos alles zusammen gemacht. Einen eigenen Freundeskreis, eigene Aktivitäten pflegten im Alter weder Vater noch Mutter. Zweitens, ihre Mutter habe die Zuständigkeit für alles Administrative und Finanzielle schon sehr früh vollumfänglich an ihren Mann abgegeben. Als dieser acht Jahre vor ihr starb, war sie in diesen Dingen völlig hilflos.

Interessant ist daneben eine Überlegung von Sonja bezüglich der unbändigen Wut, die ihre Mutter mit grosser Regelmässigkeit übermannte: «Ich denke, da müssen wir uns zurückversetzen in die Kindheit und Jugend meiner Mutter (in der Innerschweiz). Emma war intelligent und hätte durchaus ein Gymnasium oder mindestens eine Handelsschule absolvieren können. Dies haben ihre Eltern abgelehnt, offenbar mit einer finanziellen Begründung – oder vielmehr Ausrede. Sie musste eine Lehre als Damenschneiderin machen, was sie auch problemlos schaffte. Danach ging sie ins Tessin, um Italienisch zu lernen und blieb dort für zwei Jahre. Von ihrem kleinen Lohn sparte sie so viel sie nur konnte als Startkapital für die spätere berufliche Entwicklung oder eine allfällige Ehe. Als sie – von den Eltern zurückbeordert – wieder nach Hause kam, musste sie feststellen, dass ihr Vater Emmas Bankkonto geplündert hatte mit der Begründung, ihre Schwester brauche in der Handelsschule ja anständige Kleider. Also musste sie erstens mitansehen, dass ihre jüngere Schwester sich weiterbilden durfte, was man ihr verwehrt hatte, und zweitens musste sie diese Weiterbildung ungefragt mitfinanzieren. –Ich glaube, diese Enttäuschung und den entsprechenden Zorn darüber hat sie das ganze Leben unverdaut mit sich herumgetragen. Und im geistig umnachteten Zustand ist er eruptiv aus ihr herausgebrochen.»

Wie denkt Sonja heute, fünf Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, an diese zurück? Mit etwas Wehmut in den Augen antwortet sie: «Natürlich kann man die schwierigen Zeiten, ganz besonders die letzten zwei Jahre im Leben meiner Mutter, nicht einfach vergessen. Emmas Persönlichkeitsveränderung war aber derart frappant, dass ich es nie persönlich nahm, wenn sie mich verbal angriff. Das war nicht mehr meine Mutter, wie sie wirklich war. Das war eine Frau, die sich durch ihre Erkrankung fundamental geändert hatte.» Und sie fügt bei: «Je mehr Zeit vergeht, desto mehr denke ich mit grosser Dankbarkeit an meine Eltern zurück. Sie haben mir und meinen Bruder Martin, der leider im Alter von nur 42 Jahren viel zu früh verstorben ist, eine schöne und wohlbehütete Kindheit und Jugend gegeben. Sie haben uns in all unseren Plänen unterstützt, sogar dann, wenn sie nicht begeistert von einem Vorhaben waren. Bessere Eltern als Papa und Mama hätte ich nicht haben können.»

«Die Krankheit ihrer Mutter entwickelte sich schleichend»