Sie war erst zehn Jahre alt, als sie alles verlassen musste: ihr Haus in einem kleinen Dorf in der Nähe von Srebrenica in Bosnien, ihre Freunde, ihre Schule. Heute setzt sich Sanela Music, Rotarierin des RC Genève International und Vertreterin von Rotary International bei den Vereinten Nationen in Genf, mit ihrer Sanchild Foundation für den Frieden in Bosnien und anderswo ein.
Sanela Music erinnert sich an die wochenlange Flucht ohne Nahrung mit ihrer Mutter und ihren drei jüngeren Schwestern durch die Wälder, wo sie in Schulen übernachteten, bis zu einem Flüchtlingslager in Slowenien, wohin der Vater seine Familie brachte, bevor er wieder an die Front ging. Die letzten Nachrichten, die sie von dem Vater erhielten, waren schrecklich: Er war von den Serben gefangen genommen worden und wurde in einem Lager festgehalten. Da die Mutter von seinem Tod überzeugt war, gab sie den Gedanken an eine Rückkehr auf und verliess das Lager in Slowenien, um mit ihren vier Töchtern in die Schweiz zu flüchten, wo sich bereits zwei Cousinen befanden. Vom Bundeszentrum für Asylsuchende in Chiasso aus reisten sie quer durch das Land nach Lausanne, mit den Zugtickets und der Adresse des Flüchtlingszentrums in der Tasche.
Sanela Music, die wir ein paar Tage vor Weihnachten zu einem Gespräch über das Thema Frieden treffen, ist jetzt 40 Jahre alt. Doch die Erinnerungen an ihre Kindheit sind lebendig. Sie stellt ihre Tasse mit heisser Schokolade ab, um ihre Erzählung besser mit Gesten begleiten zu können, erzählt uns mit einem ungläubigen Lächeln von dieser Ankunft in Lausanne. Erzählt von der Suche nach dem Bus Nummer 5 zum Zentrum, der dank der wenigen Brocken Englisch, die das Mädchen damals sprach, gefunden wurde.
Verlorenes Vertrauen - und der Wiederaufbau
Einige Tage nach ihrer Ankunft in Lausanne fand sie sich in der Schule wieder, ohne ein Wort Französisch zu sprechen, aber mit einem Eignungstest, der sie in ein Vorgymnasium einstufte. Es war nicht einfach, die Schulbücher rot markiert zu sehen für jemanden, der immer hervorragende Noten gehabt hatte. "Das Erlernen der französischen Sprache wurde zu einem Notfall", erzählt Sanela Music. Mit Beharrlichkeit bahnte sie sich ihren Weg in eine glänzende berufliche Zukunft und steckte all ihre Energie in ihre Arbeit, ohne ihre inneren Verletzungen zu zeigen. Trotz des Glücks, dem Krieg entkommen zu sein, und des Komforts einer sicheren Umgebung in der Schweiz drückte sich das Kriegstrauma in Angstattacken, schlaflosen Nächten und jahrelangen, unverständlichen Depressionen aus.
Dann machte es eines Tages in einem Meditations- und Selbsthilfe-Workshop Klick, wo die junge Frau die Quelle ihres Traumas erkannte: Der Krieg hatte ihr jegliches Vertrauen in Menschen genommen. Menschen, die in der Lage waren, sie in der Schule von ihrer serbischen Freundin zu trennen, Menschen, die in der Lage waren zu töten. - Jeder könnte potenziell eine Gefahr für sie darstellen. Der Workshop ermöglicht es ihr zum ersten Mal, wieder eine echte Verbindung zu sich selbst und den anderen Teilnehmern herzustellen. Sie beginnt, sich endlich sicher zu fühlen, und schafft es allmählich, durch diesen ganz neuen Weg der Resilienz, den sie einschlägt, wieder Vertrauen zu fassen.
Die Rückkehr nach Bosnien nach 17 Jahren
Lernen, mit ihren Emotionen umzugehen und Angst oder Wut in positive Energie umzuwandeln: 17 Jahre nach der Flucht findet Sanela Music den Mut, nach Bosnien zurückzukehren, mit dem Gefühl, "etwas beizutragen zu haben". Zunächst nichts Konkretes, aber die Dinge fügen sich auf natürliche Weise zusammen. Erschüttert von der Zeit, die für viele stehen geblieben ist, und der Menge an Müll in den Flüssen und der kleinen Stadt Olovo, die immer noch vom Krieg gezeichnet ist, lernt sie eine Lehrerin kennen, die die Verbindung zu einer Gruppe Jugendlicher herstellt. "Habt ihr Lust, eure Stadt zu säubern?", fragt Sanela Music. Etwa zwanzig Jugendliche nehmen an einer Säuberungsaktion in der Kleinstadt teil. Als sie später feststellt, dass sie sich weiterhin alleine engagieren, lädt sie die Jugendgruppe in die Schweiz ein, bietet Besichtigungen und auch einen Workshop zur Persönlichkeitsentwicklung mit Justin Friedman, dem Gründer der Organisation FLOW (For Love of Water, aus Liebe zum Wasser), an.
Der Global Grant von Rotary International
Die Rückmeldungen sind sehr positiv, und als einer dieser Jugendlichen sie aus Bosnien anruft, in der Angst, dass wieder ein Krieg ausbrechen könnte, wird ihr klar, "dass wir Unterstützung vor Ort brauchen, dass die Sicherheit in der Balkanregion ebenso verwundbar ist wie ihre Bevölkerung, die ein schweres Erbe trägt". Ein erstes Pilotprojekt findet im November 2017 in Sarajevo für eine Gruppe von 25 Jugendlichen statt, mit dem Ziel, Hoffnung zu vermitteln und einen Weg zu positivem Handeln und Resilienz zu ebnen. Sanela Music nennt den Workshop "From inner to outer peace" (Vom inneren zum äusseren Frieden). Sie hält einen Moment in ihrer Erzählung inne, legt ihre Hand auf ihr Herz und erklärt, dass Frieden bei uns selbst beginnt. "Mit uns selbst im Reinen zu sein, ermöglicht es uns, Frieden um uns herum zu verbreiten, damit wir einen positiven Beitrag in unserer Gemeinschaft leisten können." Aber wie können möglichst viele Jugendliche von dieser Erfahrung profitieren, wie kann man dieses Projekt multiplizieren? Durch ein Gespräch mit seinem Rotary-Sponsor Walter Gyger, dem damaligen Präsidenten der Schweizerischen Rotarischen Aktionsgruppe für den Frieden, wurde aus dem Projekt in Bosnien ein Rotary-Projekt. Nach verschiedenen Präsentationen des Projekts erreichte ihn eine Einladung von Rotary Belgrad. Serbien! Sanela Music musste sich erst ein wenig Mut machen, da doch einige Ängste auftauchten, doch dann sagte sie sich, dass alles gut gehen würde, schliesslich sei es ja ein Treffen von Rotariern und Rotarierinnen. Als sie dort ankam, machte sie eine erstaunliche Feststellung: Die Vorstellung, über "Frieden" und ein "Friedensprojekt" zu sprechen, bereitete den Gastgebern Unbehagen. "Sie hatten Angst vor dem, was ich zu diesem Thema sagen könnte". Da wurde ihr klar, dass das Wort Frieden auch eine negative Konnotation haben kann, "weil es mit Krieg verbunden ist". Deshalb wurde der Name "Friedensinkubator" schliesslich durch "Harmony Project, inspire positive change" ersetzt, ein einwöchiges Trainingsprogramm für Fachleute, die sich in ihren Gemeinden engagieren. Die Teilnehmer implementierten anschliessend 17 lokale Projekte, die 2021 als "Harmony Ripple projects" bezeichnet wurden, jedes Mal in gemischten Teams mit Serben, Kroaten, Bosniaken und anderen Ethnien aus verschiedenen Regionen Bosniens. Teilnehmer wurden vor Ort geschult, um die Workshops zu leiten und so einen Schneeballeffekt der Harmonie in ihren Gemeinden zu erzeugen.
Über den erfolgreichen Abschluss des Global Grants hinaus hat sich das Harmonieprojekt in Bosnien vervielfacht. Im Jahr 2022 wurde eine weitere Trainingswoche für die Mitarbeiter von MFS Emmaus in Srebrenica organisiert, 25 neue Trainer wurden ausgebildet und 19 neue "Harmony Ripple Projects" wurden von den Alunis in verschiedenen bosnischen Städten implementiert.
Die Sanchild-Stiftung
Die Energie der jungen Frau hörte hier nicht auf. Sie erklärt, dass sie, um die Vorteile dieses Programms so weit wie möglich zu verbreiten, ihre eigene Stiftung gegründet hat, die sich weiterhin für die Harmonie einsetzt. Ein Pilotprojekt mit Rotary Lyon - St. Etienne zur Unterstützung der Integration ukrainischer Flüchtlinge, ein weiteres zwischen Bulgarien und Nordmazedonien, ein weiteres für Jugendliche aus der Diaspora in der Schweiz, die Konflikte in die Schule bringen, "weil sie ein Muster ihrer Eltern reproduzieren". Das Bedürfnis nach mehr Harmonie ist immens, die Energie des Stiftungsteams offensichtlich auch. Sanela Music hat sie "Sanchild" getauft. Das ist keine Anspielung auf ihren Vornamen. "San bedeutet Traum auf Bosnisch", erklärt sie und fährt mit ihrem strahlenden Lächeln fort, dass der Traum von einer harmonischeren Welt sie nie verlassen hat. "Das Ergebnis eines solchen Projekts mag immateriell sein, aber man sieht es deutlich in den Gesichtern der Menschen, die daran teilnehmen, ihr Lebensbezug wird dadurch zum Positiven verändert." Dann erinnert sie sich an eine Erinnerung an das Lager in Slowenien. Italienische Freiwillige waren vor Ort, um sich mit ihnen zu beschäftigen, Geschichten zu erzählen, zu zeichnen, zu basteln - eine Auszeit, die es den Kindern ermöglichte, dem Alltag zu entfliehen, eine zeitlose Blase des Wohlbefindens. Rückblickend spricht Sanela Music von dieser Referenz als Beweis dafür, dass es bedingungslose Liebe gibt und dass die Flüchtlingskinder ein unbezahlbares Geschenk erhalten hatten. "Diese Freiwilligen waren mit ihrem Herzen gekommen, und das hat einen wunderbaren Eindruck bei mir hinterlassen." Die Frau, die als Flüchtling in die Schweiz kam, hier ihr Unternehmen gründete und ihre Stiftung ins Leben rief, möchte ihrerseits einen Beitrag auf dem Weg zum Frieden leisten. Liebe, Intelligenz und viele positive Erfahrungen, die sie heute sagen lassen: "Ich weiss, dass es funktioniert, wir haben eine Formel, die sich bewährt, die eine nachhaltige Wirkung schafft und überall angewendet werden kann." Genau das tun übrigens auch andere Rotarierinnen und Rotarier. Sanela Music: "Sie tragen zu dieser Initiative bei und schlagen vor, das Projekt auch in anderen Regionen zu etablieren. Ich bin sehr dankbar dafür.