Polio-Impfkampagne in Gaza

Sonntag, 15. September 2024

vmn

Seitdem die Hamas am 7. Oktober vergangenen Jahres vom Gazastreifen aus über Israel herfiel, sind die Augen der Weltöffentlichkeit auf diesen Landstrich gerichtet. Mehr als 4600 Menschen wurden damals an einem einzigen Tag verletzt, 1139 wurden getötet. Wenn gerade wir Rotarier dieser Tage das Geschehen im Gazastreifen besonders interessiert verfolgen, so geschieht dies aus gutem Grunde: Anfang des Monats fand ebendort eine grossangelegte Impfaktion statt, an der über «End Polio Now» auch Rotary beteiligt war. Wir haben mit Rot. Cory Edwards, dem PolioPlus-Koordinator für den Distrikt 2000, gesprochen.

Lieber Cory, was genau ist Anfang September im Gazastreifen passiert, und warum war diese Aktion so bedeutend?

Cory Edwards: Anfang September 2024 wurde im zentralen Gazastreifen eine grossangelegte Impfkampagne gegen Polio gestartet. Die erste Phase dieser Kampagne fand vom 1. bis 3. September statt. Sie richtete sich speziell an Kinder unter zehn Jahren. Am Ende waren mehr als 187000 Kinder geimpft – deutlich mehr als erwartet! Ursprünglich hatte man 157000 Kinder anvisiert. Dass es schlussendlich rund 30000 Kinder mehr waren, ergibt sich dadurch, dass zuletzt viele Familien in den Gazastreifen gezogen sind, um sich in sichereren Gebieten aufzuhalten. 

Die Bedeutung dieser Aktion kann nicht genug betont werden! Nach mehr als 25 poliofreien Jahren war man im Gazastreifen plötzlich mit einem erneuten Ausbruch des zirkulierenden Poliovirus Typ 2 (cVDPV2) konfrontiert. Dies ist eine besonders gefährliche Variante des Virus, die durch die niedrige Impfrate in der Bevölkerung wieder aufgetreten ist. Ziel der Kampagne war es, die neuerliche bzw. weitere Ausbreitung der Krankheit zu stoppen und neue Fälle von Kinderlähmung zu verhindern.

Der Gazastreifen ist so belastet wie kaum ein anderes Gebiet. Wie gelingt es, eine grossangelegte Kampagne unter derart widrigen Umständen durchzuführen?

Die grösste Herausforderung ist sicherlich die instabile Sicherheitslage. Der Gazastreifen ist seit vielen Jahren, ja Jahrzehnten, von Konflikten gezeichnet, und gerade in den letzten Monaten hat sich die Situation drastisch verschärft. Die blutige Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hamas hat dazu geführt, dass viele Gesundheitseinrichtungen zerstört wurden oder nur eingeschränkt im Dienst sind. Auch die Bewegungsfreiheit der Menschen ist stark eingeschränkt, was es den Familien oft unmöglich macht, die festen Impfstationen zu erreichen. Aus diesem Grunde wurden 384 mobile Impfteams eingesetzt, um sicherzustellen, dass auch in schwer zugänglichen Gebieten und Flüchtlingslagern Impfungen durchgeführt werden können.

Ein weiteres Problem sind die stark beschädigten Wasser- und Abwassersysteme. Diese beeinträchtigen die hygienischen Bedingungen im Gazastreifen erheblich und tragen zur schnellen Verbreitung von Krankheiten bei, darunter Polio. Hinzu kommt die enorme psychische Belastung der Familien, die unter extrem schwierigen Bedingungen leben müssen. Viele Menschen haben ihre Häuser verloren, sind auf humanitäre Hilfe angewiesen und haben oft nur unzureichenden Zugang zu lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen.

Wie hat man es geschafft, die Menschen trotz dieser Schwierigkeiten zu erreichen?

Es war eine riesige logistische Challenge, aber dank der Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichsten Partnern war man am Ende erfolgreich! Mehr als 2180 Gesundheits- und Gemeindemitarbeiter haben in 513 Teams an 143 festen Standorten gearbeitet, darunter Krankenhäuser, medizinische Zentren, Versorgungsstellen und sogar Zelte in Flüchtlingslagern. Darüber hinaus haben mobile Teams Familien aufgesucht, die nicht in der Lage waren, zu den festen Standorten zu kommen. Besonders in den Gebieten Al-Maghazi, Al-Bureij und Al-Mussader, die knapp ausserhalb der vereinbarten humanitären Pausenzone liegen, war dies unerlässlich. Die Kinder, die dort leben, hätten sonst keine Impfung erhalten.

Entscheidend bei all den Anstrengungen war die Rolle, die die lokalen Gemeinschaften spielen. An der Kampagne beteiligt waren fast 300 Gemeindemitarbeiter; sie arbeiteten eng mit den Familien vor Ort zusammen, um sie über die Wichtigkeit der Impfung zu informieren und sie dazu zu motivieren, ihre Kinder impfen zu lassen. Das Vertrauen der Menschen in ihre Gemeindeleiter hat einen grossen Beitrag zum Erfolg der Kampagne geleistet.

Kannst Du uns mehr über den Impfstoff und seine Bedeutung in dieser speziellen Situation erzählen?

Der Impfstoff, der eingesetzt wurde, ist der neue orale Polioimpfstoff Typ 2 (nOPV2). Dieser Impfstoff wurde speziell entwickelt, um die Übertragung des zirkulierenden Poliovirus Typ 2 (cVDPV2) zu verhindern, der sich vor allem in Ländern verbreitet, in denen es Lücken in der Impfabdeckung gibt. CVDPV2 ist derzeit die am weitesten verbreitete Form des Poliovirus, und der Gazastreifen ist aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen und des Mangels an grundlegenden Infrastrukturen besonders anfällig für solche Ausbrüche.

Der nOPV2-Impfstoff ist sowohl sicher als auch wirksam. Er bietet den geimpften Kindern nicht nur Schutz vor der Krankheit selbst, sondern reduziert auch die Übertragung des Virus in der Gemeinschaft. Das ist besonders wichtig, um weitere Ausbrüche zu verhindern. In den letzten Monaten wurde in mehreren Umweltproben, die im Gazastreifen gesammelt wurden, das Virus nachgewiesen, und man hat bereits mehrere Fälle von akuter schlaffer Lähmung (AFP) registriert, darunter auch einen bestätigten Polio-Fall bei einem Kind.

Wie geht es nach der ersten Phase weiter? Was sind die nächsten Schritte?

Nach der erfolgreichen Durchführung der ersten Phase bereiten sich die Verantwortlichen aktuell auf die zweite und dritte Phase der Kampagne vor. Die zweite Phase soll vom 5. bis 8. September 2024 im südlichen Gazastreifen stattfinden, wo schätzungsweise 340000 Kinder geimpft werden. Wie in der ersten Phase werden sowohl feste Impfstationen als auch mobile Teams zum Einsatz kommen, um möglichst viele Kinder zu erreichen. Die dritte Phase wird dann vom 9. bis 11. September im nördlichen Gazastreifen durchgeführt, wo nochmals 150000 Kinder eine Impfung erhalten.

Ziel der Kampagne ist es, in jeder Phase eine Durchimpfungsrate von mindestens 90 Prozent zu erreichen. Das ist entscheidend, um den Ausbruch der Krankheit zu stoppen und eine weitere internationale Ausbreitung zu verhindern. Die Verantwortlichen überwachen die Durchimpfungsraten sehr genau und passen die Strategie flexibel an, um sicherzustellen, dass jedes Kind der Zielgruppe erreicht wird.

Welche Rolle spielt in solchen Situationen die internationale Zusammenarbeit?

Ganz klar: Ohne sie ginge es nicht! Ohne die enge, vertrauensvolle Kooperation von Partnern wie der WHO, UNICEF, UNRWA und der Globalen Initiative zur Ausrottung der Kinderlähmung (GPEI) wäre es nicht möglich, eine so komplexe und grossangelegte Impfkampagne in einem Gebiet wie dem Gazastreifen durchzuführen. Die finanzielle Unterstützung von Gebern und die koordinierte Arbeit vor Ort haben den Erfolg der Kampagne erst ermöglicht.

Diese Zusammenarbeit unterstreicht auch, wie wichtig Frieden für die Gesundheit der Bevölkerung ist. Es ist bezeichnend, dass diese Kampagne während einer humanitären Pause durchgeführt wurde, die von allen Konfliktparteien respektiert wurde. Wir hoffen sehr, dass diese positive Dynamik anhält und dass weitere humanitäre Massnahmen ermöglicht werden, um das Leid der Menschen zu lindern.

Gibt es abschliessend noch etwas, das Du den rotarischen Freunden mit auf den Weg geben möchten?

Ja, ich möchte betonen, dass die Bekämpfung von Polio eine globale Verantwortung ist. Wir können es uns nicht leisten, in unseren Bemühungen nachzulassen, denn Polio kennt keine Grenzen. Solange es noch Ausbrüche in einigen Teilen der Welt gibt, ist jedes Kind gefährdet. Es ist ermutigend zu sehen, wie viel erreicht werden kann, wenn Gemeinschaften, Regierungen und internationale Partner zusammenarbeiten, um eine bessere Zukunft für die Kinder zu schaffen.

Lieber Cory, wir danken Dir für das Gespräch.

Die Polio-Ansprechpartner in CH/FL

Distrikt 1980: Rot. Isabel Zimmermann, RC Balsthal, isabel.zimmermann@gmail.com
Distrikt 1990: Rot. Oliver Rosenbauer, RC Genève International, rosenbauero@who.int
Distrikt 2000: Rot. Cory Edwards, RC Zurich International, cedjacket@gmail.com


In der ersten Phase der Kampagne wurden mehr als 187000 Kinder geimpft Foto: UNICEF