Zwischen Fuchsmajor und Fliege

utorak, 14. oktobar 2025.

vmn

Studentenverbindungen gelten als Relikte vergangener Tage – und sind doch Spiegel gesellschaftlicher Entwicklung. Einst Orte akademischer Freiheit, später Projektionsflächen politischer Gegensätze, ringen sie heute um ihre Rolle zwischen Tradition, Werten und Zeitgeist.

Im Mai dieses Jahres sorgte ein Urteil des Bundesgerichts für Aufsehen: Zwei Hochschulen in der Westschweiz, darunter die Universität Lausanne, hatten der traditionsreichen Männerverbindung Zofingia den Status einer universitären Vereinigung entzogen, und das höchste Gericht stützte diesen Entscheid. Im Kern ging es um eine Abwägung zwischen Versammlungsfreiheit und Gleichstellungsgebot – und damit um die Frage, wie viel Raum Tradition in einer Zeit bekommt, die sich gern auf den Fortschritt beruft.

Einer, der mit dem Fall bestens vertraut ist, ist PDG Franz-Xaver Stadler. Ich treffe ihn an einem sonnigen Herbsttag im Zürcher Landesmuseum. Durch die hohen Fenster fällt warmes Licht, draussen rauschen Touristen vorbei – drinnen herrscht Ruhe. Die Fliege sitzt perfekt, der Hut steht im richtigen Winkel – wie immer. Stadler lächelt, hört kurz zu und sagt dann ruhig, mit Bedacht: «Vor zehn Jahren hat das Bundesgericht im gleichen Zusammenhang noch anders entschieden. Damals zählte die Freiheit höher, heute die Gleichstellung. Das spiegelt den Zeitgeist wider, nicht die Realität.»

Für Stadler ist das Urteil «aus der Zeit gefallen». Die Gleichstellung, sagt er, sei in der jungen Generation längst Realität. Frauen hätten vielerorts sogar einen Vorsprung – «an den Universitäten, in den Gymnasien, in vielen Spitälern». Dann erzählt er mit einem leisen Schmunzeln: «Im Kantonsspital Uri sind die leitenden Ärztinnen inzwischen in der Überzahl. Die Chirurgie, die Orthopädie und die Anästhesie werden von Chefärztinnen geleitet.» Für den früheren Governor des Distrikts 1980 ist das Urteil deshalb weniger Fortschritt als Reflex: der Versuch, Gleichstellung zu erzwingen, obwohl sie längst gelebt wird.

In den Medien sorgte das Urteil für Schlagzeilen, auf sozialen Plattformen für hitzige Kommentare. Von Diskriminierung war die Rede, von verstaubten Männerbünden und überholten Ritualen. Gibt das also Anlass zur Aufregung? Stadler bleibt gelassen. Von Hysterie keine Spur – eher von Erfahrung. Er lächelt mild, nicht herablassend. Seine Worte sind ruhig gesetzt, präzise, ohne jede Schärfe. «Ich nehme das Urteil zur Kenntnis. Es ist ja kein Verbot – die Verbindung darf weiterbestehen, sie wird einfach nicht mehr als Universitätsverein anerkannt. Das heisst, sie kann in der Universität keine Räume mehr benutzen. So what?» Ein kurzes Lächeln, dann fügt er hinzu: «Einer meiner Kollegen hat gesagt: `Wir haben gratis PR bekommen.` In Zürich haben wir jedenfalls keine Nachwuchsprobleme.»

Wer verstehen will, warum das Urteil so viele Emotionen auslöst, muss einen Blick zurückwerfen. Die Geschichte der Zofingia beginnt 1819, mitten im geistigen Aufbruch nach dem Wiener Kongress. Junge Männer aus Zürich und Bern wollten den Staatenbund zu einem Bundesstaat formen – liberal, protestantisch, freiheitlich. «In den ersten Bundesratssitzungen sassen Zofinger», erzählt Stadler. «Zeitweise war jeder vierte Parlamentarier einer von uns.» Die katholischen Kantone reagierten rasch und gründeten eigene Verbindungen, aus denen später der Schweizerische Studentenverein, der STV, hervorging. Schon damals spiegelte sich im Verbindungswesen die politische und konfessionelle Spaltung des Landes – und damit ein Stück Schweizer Geschichte im Kleinen.

Der leidenschaftliche Rotarier wuchs in der Innerschweiz auf, in einer Gegend, in der katholische Traditionen selbstverständlich sind. Zum Studium zog es ihn folgerichtig an die Universität Fribourg, die einzige katholische Universität des Landes. «Dorthin gingen damals viele aus meiner Region», erzählt er. «Aber politisch und sozial war es in Fribourg eher eng.» Er schnupperte bei zwei Verbindungen des STV hinein: «Bei der einen hat man fast missioniert, bei der anderen zu viel getrunken. Dann hat mir ein Freund die Zofingia empfohlen – und das hat gepasst», sagt er mit einem Lachen. «Eigentlich war’s eine Art Ausschlussverfahren, dass ich bei der Zofingia gelandet bin.»

Einmal aufgenommen – für immer verbunden. Wer Zofinger wird, entscheidet sich nicht für ein paar Studienjahre, sondern quasi für immer. Man tritt als Fuchs ein, lernt die Abläufe kennen, und wenn die anderen zustimmen, wird man Bursche. Danach bleibt man Mitglied – ein Leben lang. Diese Gemeinschaft hat nicht nur Regeln, sondern auch Räume. Das Verbindungshaus ist für viele weit mehr als ein Treffpunkt. «Früher war die Verbindung ein Stück Ersatzfamilie», erzählt er. «Die Studenten waren weit weg von zu Hause, oft über Wochen, vielfach im Ausland. Am Wochenende traf man sich im Verbindungshaus – dort entstand Gemeinschaft, dort lernte man Verantwortung.»

Genau so erlebte es der damalige Medizinstudent Stadler. Für ihn war die Zofingia schnell mehr als eine Studentenverbindung – sie war ein Stück Heimat auf Zeit, ein Ort, an dem die Freundschaft gepflegt wird.

Was überdies gepflegt wird – und das mag auf Aussenstehende mitunter exotisch wirken –, ist ein ganzer Mikrokosmos an Bräuchen, Farben und Begriffen. Was bitte ist ein Biervater? Warum spannt sich ein Band quer über die Brust? Und weshalb wird aus «Franz-Xaver» plötzlich «Parfait»? Antworten darauf liefert der Comment – und der Alltag im Verbindungshaus: Dort nimmt der Fuchsmajor die Neuen – die Füchse – unter seine Fittiche und erklärt ihnen, wann man steht, wann man sitzt und wann man besser schweigt. Ein älterer Biervater begleitet seinen Biersohn durch die ersten Semester, als Mentor, Seelenverwandter und gelegentlich als geduldiger Zuhörer nach langen Nächten. Bei den traditionellen Kneipen wird gesungen, diskutiert, angestossen – und das Ganze geschieht in Couleur, also in den rot-weissen Farben der Zofingia. Die Mütze sitzt, das Band glänzt, und wenn jemand «Silentium!» ruft, weiss jeder, was zu tun ist.

«Das ist kein Maskenball», sagt Stadler mit einem Lächeln. «Es geht um Rückgrat. Um Stil. Und um das Wissen, woher man kommt.»

Was ihn besonders fasziniert, ist der Austausch zwischen Menschen, die im Alltag kaum aufeinandertreffen würden. «Da sitzt der Jurist neben dem Mediziner, der Historiker neben dem Ingenieur. Man lernt, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen.» Für Stadler ist genau das der eigentliche Wert der Verbindung – «eine Schule fürs Leben», wie er sagt, «und zwar nicht nur fachlich, sondern auch charakterlich.»

Diese Vielfalt, sagt Stadler, erinnere ihn oft an ein anderes Netzwerk, das ihm am Herzen liegt. Hier wie dort treffen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Ausbildung und Erfahrung aufeinander – mit dem gemeinsamen Ziel, sich einzubringen und voneinander zu lernen. So zieht er den Vergleich zu Rotary: «Da kommen Menschen aus verschiedenen Berufen zusammen, vereint durch Freundschaft, Bildung und gemeinsame Werte.» Rotary, sagt er, sei «eine Lebensverbindung – einfach für die Älteren».

Dass Studentenverbindungen und Rotary oft als elitär gelten, stört ihn nicht. Ganz im Gegenteil! «Natürlich sind wir eine Elite. Aber Elite ist nichts Schlechtes, solange sie Verantwortung übernimmt. Wer mehr weiss, hat mehr Verpflichtung.

Was ihn vielmehr irritiert, ist der Umgang der Gegenwart mit geschlossenen Systemen. «Heute gilt schon als verdächtig, wer nicht alles öffentlich macht. Dabei ist Diskretion etwas anderes als Geheimniskrämerei.» Der gesellschaftliche Reflex, allem Strukturierten und Traditionsreichen mit Skepsis zu begegnen, mache ihm Sorge. «Wir leben in einer Zeit, in der Zugehörigkeit schnell als Ausschluss verstanden wird. Wer sich an Regeln hält, gilt als unflexibel. Wer Werte pflegt, als rückwärtsgewandt.»

Misstrauen, sagt er, entstehe meist aus Unkenntnis. «Wer nie in einer Verbindung war und uns im Vollwichs sieht, mag spöttisch die Augenbrauen heben – verständlich! Wir selbst nehmen das manchmal mit einem Augenzwinkern. Aber man darf nicht vergessen: Bänder, Mützen und all die Äusserlichkeiten sind Symbole, keine Barrieren. Sie stehen für Gemeinschaft, für Verlässlichkeit, für eine innere Überzeugung, die nicht an der Oberfläche bleibt.»

Genau diese Einstellung – und das Aushalten anderer Meinungen – vermisst er heute allzu oft. «Ich finde es gefährlich, wenn an Universitäten nur noch eine Meinung zugelassen wird. Die Uni sollte der Ort sein, wo Ideen aufeinandertreffen. These, Antithese, Synthese – so entsteht Erkenntnis.» Dass Tagungen abgesagt würden, weil sie gestört werden könnten, hält er für skandalös. «Da müsste der Staat sagen: Wir stehen für Meinungsfreiheit ein – und schützen sie.» Für ihn ist das eine Frage des Prinzips, nicht der Politik. «Meinungsfreiheit endet nicht dort, wo jemand beleidigt sein könnte.»

Franz-Xaver Stadler wirkt nicht wie ein Provokateur, sondern wie jemand, der zuhört, nachdenkt und dann sagt, was er für richtig hält – ohne Zorn, ohne Eifer. Vielleicht liegt darin seine Wirkung: Er spricht, wie er lebt – klar, verbindlich, uneitel.

Im Innenhof des Landesmuseums steht die Herbstsonne inzwischen tiefer. Sie spiegelt sich in seiner Brille, als er die Fliege richtet und sich den Hut aufsetzt. «Man darf anderer Meinung sein – man muss nur fähig bleiben, sie auszuhalten», sagt der Zofinger zum Abschied. Dann nickt er leicht, ein Schmunzeln huscht über sein Gesicht. Ein Gentleman alter Schule – hellwach in seiner Zeit.

 

Dr. med. Franz-Xaver Stadler (*1947) ist Facharzt für Rheumatologie und innere Medizin und seit 1988 Mitglied im RC Uri. 2016/17 stand er dem Distrikt 1980 als Governor vor, zudem engagierte er sich in verschiedenen nationalen Gremien. Während seiner Studienzeit trat Franz-Xaver in Fribourg der Zofingia bei, später war er in Zürich aktiv und Mitglied des Centralausschusses. Bis heute hält er der Verbindung die Treue. Franz-Xaver Stadler ist bekannt für seine brillante Beobachtungsgabe, seinen feinen Humor – und für sein Markenzeichen, die Fliege. Gemeinsam mit seiner Frau Ursula ist er fest im Kanton Uri verwurzelt.



PDG Franz-Xaver Stadler