Ein rätselhaftes Leiden. Ein Patient, der jahrelang von Arzt zu Arzt geschickt wurde, ohne eine Diagnose zu erhalten. Und dann ein Durchbruch – durch eine Untersuchung der DNA, die endlich die Ursache ans Licht bringt. Solche Momente sind es, die Rot. Caroline Henggeler antreiben. Sie ist stellvertretende Leiterin des Genetikzentrums der Stiftung für Menschen mit seltenen Krankheiten in Schlieren und ihre Arbeit bewegt sich oft an der Grenze des Machbaren.
Caroline Henggeler ist nicht nur Spezialistin für medizinische Genetik FAMH, sondern auch eine Spurensucherin. Während Mediziner mit klinischen Symptomen arbeiten, taucht sie tief in die DNA, also das Erbgut, ihrer Patienten ein – auf der Suche nach jenen DNA-Sequenzabweichungen, die über Gesundheit oder Krankheit entscheiden. Es sind einzelne «Tippfehler», sprich: genetische Varianten, im Erbgut, die den Unterschied zwischen einem normalen Leben und einer genetisch bedingten Krankheit ausmachen können.
Die Welt der medizinischen Genetik hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht. Während früher nur einzelne Gene bzw. Genabschnitte sequenziert wurden, ermöglichen moderne Sequenzierungstechnologien heute den Nachweis oder Ausschluss einer Diagnose durch die Sequenzierung von mehreren (tausend) Genen bzw. des ganzen Genoms. Henggeler und das Team des Genetikzentrums arbeiten (mit einer Vorreiterrolle in der Schweiz) mit der zurzeit weltweit bestmöglichen Technologie der sogenannten Ganzgenomsequenzierung, die es ermöglicht, das komplette Erbgut (d.h. ~25000 Gene des Menschen, ~3 Milliarden Basen) zu sequenzieren. Diese Technologie hat die medizinische Genetik revolutioniert und eröffnet neue Möglichkeiten für Präzisionsmedizin. Allerdings kann der diagnostische Endpunkt mit dem zurzeit (weltweit) verfügbaren Wissen durchschnittlich nur bei etwa 50 Prozent der Fälle von genetisch bedingten seltenen Krankheiten erreicht werden, da erst bei etwa der Hälfte aller menschlichen Gene die Funktion überhaupt bekannt ist. Es ist also die Suche nach der sprichwörtlichen «Nadel im Heuhaufen».
«Für die meisten Patienten ist die Diagnose eine Erleichterung», sagt Henggeler. «Endlich haben sie eine Erklärung für ihre Beschwerden, werden nicht mehr als Simulant abgestempelt – und in manchen Fällen gibt es auch eine gezielte Behandlungsperspektive bzw. rechtzeitige und wirksame Prävention.» Denn seltene Krankheiten haben oft eines gemeinsam: Aufgrund ihrer Seltenheit und Vielfalt werden sie klinisch oft verkannt und im Vergleich zu bekannten Krankheiten dauert es meistens viel länger (etwa sieben Jahre), bis sie richtig diagnostiziert werden. Da etwa 80 Prozent der seltenen Krankheiten genetisch bedingt sind, kommt bei deren Diagnose der genetischen Untersuchung – dem Gentest (nicht zu verwechseln mit Internet- und Apotheken-Gentests) – eine besondere Bedeutung zu.
Die Stiftung für Menschen mit seltenen Krankheiten
Henggeler arbeitet an einem Ort, an dem Hoffnung und Wissenschaft aufeinandertreffen. Die gemeinnützige Stiftung für Menschen mit seltenen Krankheiten hat es sich zur Aufgabe gemacht, am stiftungseigenen Genetikzentrum in Schlieren Patienten eine Diagnose zu ermöglichen, welche in der Schweiz andernorts nicht oder nicht weiter abgeklärt werden können und als ausdiagnostiziert gelten. Mit ihren schweizweit einzigartigen Tätigkeiten schliesst die Stiftung somit eine Lücke im Schweizer Gesundheitssystem. Durch modernste Technologien und interdisziplinäre Forschung versuchen Henggeler und das Team des Genetikzentrums auch die komplexesten Fälle zu entschlüsseln, da sie sich die hierzu benötigte Zeit nehmen – eine Zeit, die im üblichen medizinischen Betrieb schlichtweg fehlt.
Da es sich bei der von der Stiftung durchgeführten genetischen Untersuchung nicht um eine Routineanalyse (keine Parametermessung), sondern um eine hoch spezialisierte und komplexe Untersuchungen handelt, bedeutet das in der Praxis oft monate- oder jahrelange Analysen, Abgleiche in internationalen Datenbanken und die Interpretation genetischer Varianten auf ihre klinische Relevanz, was trotz Einbeziehung von Blutsverwandten (ermöglicht durch die Stiftung) nicht immer zum diagnostischen Endpunkt führt. Genetisch bedingte Krankheiten betreffen meist nicht nur einen Patienten, sondern auch dessen Blutsverwandte. Das Wissen über die erbliche Ursache ist somit der Schlüssel dazu, zukünftige Generationen zu schützen, und zwar durch eine rechtzeitige und wirksame Prävention.
Die Stiftung spielt schweizweit eine besondere Rolle in der medizinischen Genetik sowie in der internationalen Forschung und fördert die Erweiterung und Vertiefung des Wissensstandes bei seltenen Krankheiten. Die Kosten einer vollständigen genetischen Abklärung, d.h. bis zum diagnostischen Endpunkt, werden leider von den Krankenkassen nicht oder nur teilweise übernommen, trotz der Position in der eidgenössischen Analysenliste für seltene erblich bedingte Krankheiten, sodass die Stiftung stets auf Spenden angewiesen ist, um ihre Arbeit durchführen zu können. Das hierzu benötigte, aufwendige Fundraising macht Henggeler in ihrer Freizeit.
Zwischen Wissenschaft und Ethik
Doch die genetischen Untersuchungen sind nicht nur eine wissenschaftliche Herausforderung, sondern erfordern auch eine grosse Verantwortung. Vor und nach einer genetischen Untersuchung benötigt es eine gesetzlich vorgeschriebene genetische Beratung, welche durch Medizinische Genetiker erfolgen soll. Die Beratung darf nur der individuellen und familiären Situation der betroffenen Person und nicht allgemeinen gesellschaftlichen Interessen Rechnung tragen. Sie muss die möglichen psychischen und sozialen Auswirkungen des Untersuchungsergebnisses auf die betroffene Person und ihre Familie berücksichtigen. Dabei soll auch besprochen werden, wie mit allfälligen Zufallsbefunden mit klinischer Bedeutung, aber ohne Bezug zur Fragestellung, sog. «incidental findings», umgegangen werden soll.
Ein weiterer Aspekt, der ihre Arbeit prägt, ist die gesellschaftliche Debatte um genetische Untersuchungen und deren Folgen. Nur wenn die richtige Diagnose vorliegt bzw. die genetische Ursache der Krankheit bekannt ist, sind Aussagen über Therapie, Prognose und Prävention sowie Abklärung und Beratung in der Familie möglich. Es stellt sich aber auch die Frage nach dem Umgang mit diesen Erkenntnissen sowie den genetischen Daten per se. Es handelt sich hierbei um die wertvollsten und persönlichsten Daten eines Menschen. Welche Rolle spielen Versicherungen und Arbeitgeber, wenn es um im Erbgut verankerte Informationen geht? Henggeler ist sich dieser Herausforderungen bewusst und plädiert für einen verantwortungsvollen und restriktiven Umgang mit genetischen Daten.
Die Zukunft der (genetischen) Medizin
Die Forschung schreitet rasant voran. Neue Techniken wie die Genschere CRISPR/Cas eröffnen Möglichkeiten, aber auch Gefahren bei der Behandlung von genetisch bedingten Krankheiten. Trotz vielversprechender Resultate bisheriger In-vivo-Experimente ist diese Technologie noch weit davon entfernt, in den medizinischen Alltag Einzug zu halten. Zum einen, da die Methode noch nicht ausgereift ist, zum anderen, da ethische und gesetzliche Fragen diskutiert werden müssen, um allfälliges Missbrauchspotenzial zu begrenzen.
Auch die Bedeutung der Pharmakogenetik, welche die Wahl und Dosierung eines geeigneten Medikaments ermöglicht, nimmt stetig zu, da damit Nebenwirkungen, unnötige Zeitverluste bei der Medikamenteneinstellung sowie diesbezüglich entstehende Kosten vermieden werden können. Damit rückt die Vision einer breiteren Anwendung der personalisierten Medizin immer näher, die nicht nur Symptome behandelt, sondern gezielt an den Ursachen ansetzt.
Henggeler sieht die Zukunft der Medizin ganz klar in der Genetik. «Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es immer Grenzen geben wird. Eine genetisch bedingte Krankheit lässt sich (vorerst) nicht heilen und nicht jede genetische Untersuchung führt zu einem eindeutigen Resultat.» Dennoch ist sie überzeugt, dass die Genetik eine der wichtigsten Disziplinen der modernen Medizin werden wird.
Und genau das ist es, was Caroline Henggeler trotz aller Widrigkeiten antreibt: Die Suche nach Antworten, die für andere unerreichbar schienen. Die Lösung des scheinbar Unlösbaren. Und dass man mit seinem Wissen Menschen helfen kann, welche anderweitig keine Hilfe mehr erhalten können.
Zur Person
Caroline Henggeler, Mitglied im RC Zürich-Limmattal, ist Diplom-Biologin und Spezialistin für medizinische Genetik FAMH. Sie ist stellvertretende Geschäftsleiterin der Stiftung für Menschen mit seltenen Krankheiten (stiftung-seltene-krankheiten.ch) in Schlieren und Mitglied des Stiftungsrats. Im Genetikzentrum (genetikzentrum.ch) der Stiftung ist sie die Co-Leiterin der diagnostischen Aktivitäten und setzt sich mit grossem Engagement für die Aufklärung genetisch bedingter seltener Krankheiten ein.