«Mir war früh klar, dass ich mein Leben in die Hand nehmen muss»: Das sagt Rot. Antje Kanngiesser vom RC Bern. Heute sorgt die CEO der Alpiq Gruppe für die nötigen Rahmenbedingungen, die Frauen das Erreichen von Spitzenpositionen erlauben. Im März wurde die deutsch-schweizerische Doppelbürgerin vom Swiss Economic Forum als Unternehmerin des Jahres 2025 ausgezeichnet.
Antje Kanngiesser ist seit März 2021 Vorsitzende der Geschäftsleitung
(CEO) der Alpiq Gruppe, der Schweizer Stromproduzentin und
Energiehändlerin mit europaweiter Präsenz und über 1300 Mitarbeitenden.
Die promovierte Juristin mit einem EMBA des Schweizer IMD und einer
Finanzausbildung am französischen INSEAD startete ihre Karriere als
Anwältin in Deutschland. Seit über 20 Jahren ist sie in
Führungsfunktionen in Industrie und Beratung an verschiedenen Stationen
im Ausland und der Schweiz tätig. Die 51-jährige deutsch-schweizerische
Doppelbürgerin lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im Kanton
Freiburg. Antje Kanngiesser ist Mitglied des RC Bern.
Antje Kanngiesser, was bedeutet Ihnen die Auszeichnung des Swiss Economic Forum als Unternehmerin des Jahres 2025?
Dieser Preis bedeutet mir sehr viel. Solche Preise sind wichtig, weil sie Vorbilder für jüngere Frauen etablieren. Sie machen Frauen sichtbar, die eine erfolgreiche Karriere in der Wirtschaft gemacht haben. In meiner Erfahrung ist es so, dass die meisten Frauen, die einen nächsten Karriereschritt wagen, dies auf Grund von Vorbildern tun.
Spitzenpositionen werden auch in der Wirtschaft nur selten von Frauen bekleidet. Woher kommt Ihrer Meinung nach dieses Ungleichgewicht?
Ein Grund sind die fehlenden Rollenmodelle und die Selbstverständlichkeit, dass Frauen diese Top-Funktionen ebenso ausfüllen können wie Männer. Ein weiterer Grund: Oft sind Frauen genau dann, wenn die Karriere entscheidende Schritte nimmt, nur in Teilzeit beschäftigt, weil sie Kinder haben. Wir setzen deshalb bei uns auf Beschäftigung zwischen 80 und 100 Prozent und setzen mit attraktiver Kitaförderung die entscheidenden Anreize für Mütter, weiterhin mit hohem Pensum zu arbeiten. Denn fehlt ein Unter- und Mittelbau, wird es auch schwierig, Frauen ganz nach oben zu bringen.
Was hat es bei Ihnen persönlich gebraucht, um so weit zu kommen? Spielt allenfalls auch Ihre Herkunft aus Deutschland eine Rolle oder ist die Situation vergleichbar mit jener in der Schweiz?
Massgeblich ist sicherlich das Elternhaus. Bei uns zu Hause war es normal, dass alle im Betrieb mitarbeiten und Verantwortung übernehmen, aber auch dann hinstehen, wenn man etwas verbockt hat. Mir war früh klar, dass ich mein Leben in die Hand nehmen muss. Ich war fleissig, aber immer als Mittel zum Zweck. Ich wollte etwas bewegen, Wirkung erzielen, als Jugendliche wie in der ersten Karriere in Deutschland. Mein Wechsel von Deutschland in die Schweiz bedeutete, dass ich meinen Beruf als Anwältin nicht mehr ausüben konnte. Also habe ich mich schnell aufs Management fokussiert. Ich wollte Verantwortung übernehmen, führen und gestalten, und das tue ich bis heute und sehr gerne.
Sie sind Mutter von zwei Kindern. Frauen, die in Spitzenpositionen vordringen möchten, müssen sich also nicht zwingend zwischen Familie und Karriere entscheiden?
Diese Frage wird erstaunlicherweise immer nur Frauen gestellt. Männer kriegen Applaus, wenn sie vier Kinder haben, aber niemand fragt, wie sie sich die Kinderbetreuung organisieren. Bei Frauen fragt man nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Da haben wir als Gesellschaft noch einen Weg zu gehen.
Natürlich ist jede Laufbahn individuell. Gibt es trotzdem Tipps, die Sie anderen Frauen geben könnten?
Neben der Ambition und der Bereitschaft, immer die «extra-Mile» zu gehen, hat mir geholfen, dass ich den Humor nie verliere – gerade, wenn es stressig und hektisch ist. Humor, ein bisschen den Schalk im Nacken bringen und sich selbst nicht immer zu ernst zu nehmen, haben eine positive Wirkung auf das Umfeld, das man als Führungskraft ja gewinnen muss. Häufig stellen gerade Frauen hohe Ansprüche an sich selbst und neigen zum Perfektionismus. Beides öfter zur Seite schieben und mutig auch Jobs annehmen, die vermeintlich ausserhalb der Komfortzone sind, ist eine grossartige Erfahrung, die man machen sollte.
Wie fördern Sie das als CEO?
Über die Kultur. Das ist unser Wettbewerbsvorteil. Wir setzen sehr stark auf «Secure Base Leadership». Das heisst: Wir schaffen eine Vertrauensbasis, wo wir auf die Kompetenz und Eigeninitiative der Mitarbeitenden setzen und sie wachsen lassen. Sie zahlen dieses Vertrauen sehr oft mit enormem Einsatz und mit Leistung zurück. Ein wichtiges Element ist auch, dass unsere Leute wissen, WARUM wir uns für etwas einsetzen – sie kennen und leben unseren «purpose». In meiner Wahrnehmung wird dies immer wichtiger für Mitarbeitende.
Was müssten Unternehmen vorkehren, damit mehr Frauen in Führungspositionen vorstossen?
Es braucht Anreize. Als wesentliches Hindernis haben wir Betreuungsaufgaben, Teilzeitarbeit und geringe Sichtbarkeit von Frauen identifiziert. Deshalb haben wir - wie bereits angetönt - für Frauen unsere Beiträge zu Kitakosten erhöht. Die persönliche Vorsorge und finanzielle Unabhängigkeit unserer Mitarbeitenden sind uns ebenso Motivation wie der Beitrag an unsere Renten- und Sozialsysteme. Unverzichtbar sind auch hier das Vertrauen, Fördern und Fordern der Mitarbeitenden durch Führungspersönlichkeiten.
Führen Frauen eigentlich anders als Männer?
Ich wage nicht zu beurteilen, ob Führung geschlechterspezifisch ist. Bei Führung geht es um Menschen und um Unternehmenskultur. Welche Führung zum gewünschten unternehmerischen Erfolg führt, richtet sich auch nach dem Unternehmen. Auch das gilt es als Führungskraft zu erkennen und entsprechend zu honorieren. Fakt ist, ich bin nur ein Leader, wenn ich Follower habe.
Wie sieht denn moderne Führung heute aus?
Mich stört das Wort «modern». Massgeblich war und ist, ob die Führung in der Lage ist, das Unternehmen zum Erfolg zu führen. Sehr wichtig ist, authentisch zu sein. Gesellschaftlich sind wir in einem Arbeitnehmermarkt, wo sich Mitarbeitende den Job aussuchen. Hier muss sich ein Arbeitgeber attraktiv und die Führung glaubwürdig positionieren. Unternehmen, wo Mitarbeitende einer sinnstiftenden Arbeit nachgehen, wo sie von der Führung wie von Kollegen respektiert, gefordert und gefördert werden und offen aus Fehlern lernen können, sind im Markt im Vorteil.
Welche Stärke schätzen Sie besonders an sich?
Dass ich den Humor nie verliere – auch in sehr anspruchsvollen und hektischen Zeiten - und dass sich mein Umfeld regelmässig von mir anstecken lässt und mit Zuversicht auch die grössten Herausforderungen angeht.
Gibt es eine Eigenschaft, die Sie bei sich nicht mögen?
Wer hat die nicht? Auf meinen Perfektionismus könnte ich gut verzichten. Ab und an gelingt es mir recht gut.
Welche Rolle spielt Rotary in Ihrem Leben?
Die Kreativität des gesamten Netzwerks mit seinen vielfältigen Initiativen begeistert mich, von Tulpenzwiebeln für Polioimpfungen oder - wie im meinem Club - die Unterstützung von Gassenküchen, die Fahrdienste für ältere Rotarier oder die Jugendarbeit, um spontan nur wenige zu nennen. Rotary ist kreativ und vielfältig und wirkt lokal wie global.
Frauen sind in Rotary ebenfalls untervertreten – was müsste sich bewegen, damit sich das ändert?
Es braucht gezielte Einladung, echte Offenheit – und weniger implizite Regeln, wie man sich «verhalten muss», um dazuzugehören. Wenn ich von impliziten Regeln spreche, meine ich jene unausgesprochenen Erwartungen, die sich über Jahre hinweg in der Kultur eines Clubs eingeschlichen haben – oft unbeabsichtigt, aber dennoch wirksam. Dazu gehören Vorstellungen darüber, wie man sich kleidet, spricht, welche Themen und Gesprächsformate als ‚würdig‘ gelten oder wie man sich in Diskussionen einbringt. Frauen müssen sich willkommen fühlen, nicht nur geduldet. Das beginnt bei der Kultur und endet bei konkreten Förderinitiativen. Ich habe selbst erlebt, wie wertvoll es ist, Teil eines solchen Netzwerks zu sein – und wie selten Frauen in solchen Strukturen präsent sind. Dazu brauchen wir aber ein zeitgemässes Selbstverständnis, dass Vielfalt unsere Wirkung stärkt.