«Wir hatten viel Unglück mit unseren Söhnen, aber wir haben etwas Bleibendes geschaffen»: Jacques Rognon, Mitglied des RC Neuchâtel, hinterlässt der Schweiz ein wissenschaftliches Vermächtnis, das das Ergebnis eines lebenslangen Kampfes ist. Mit der Schweizerischen Stiftung für die Erforschung der Muskelkrankheiten waren er und seine Frau Pioniere auf diesem Gebiet.
Philippe Rognon stützt sich mit seinen kräftigen Armen auf den Autositz, sein Sohn Loris hat bereits die Holzplatte bereitgelegt, damit sein Vater rasch in den Rollstuhl neben der Tür gleiten kann. Jacques, Philippes Vater, holt aus dem Kofferraum die beiden Fussauflagen, die am Rollstuhl befestigt werden. Die Griffe sind gut eingespielt, kurz darauf rollt Philippe auf dem Kiesweg im Parc de l'Indépendance in Morges zu dem Blumenbeet, wo die Journalistin ihn mit seinem Vater fotografieren möchte. Nach dem Fotoshooting werden Vater und Sohn am Seeufer noch Wein degustieren; die Stimmung ist sommerlich und entspannt.
Jacques ist 88 Jahre alt, Philippe 51. Die enge Beziehung zwischen Vater und Sohn, die sich über all die Jahre aufgebaut hat, ist stark geprägt von einem Kampf, der seit über 40 Jahren andauert: Über die Schweizerische Stiftung für die Erforschung der Muskelkrankheiten (SSEM) haben Jacques und seine Frau Monique die Forschung auf diesem Gebiet in der Schweiz ins Leben gerufen. Keiner von beiden besitzt eine medizinische Ausbildung; Monique ist Juristin, Jacques ist Doktor der Naturwissenschaften der ETH Lausanne (EPFL). Als Moniques Vater starb, stellten die Ärzte fest, dass sie Trägerin einer seltenen Muskelerkrankung sein könnte. Es war ein Schock: Ohne selbst an der Krankheit zu leiden und ohne es zu wissen, hatte sie die Becker-Muskeldystrophie, eine abgeschwächte Form der Duchenne-Muskeldystrophie, an ihre beiden Söhne weitergegeben. Diese Krankheit führt zu einem langsamen Muskelschwund, der im unteren Teil des Körpers beginnt.
Kraft schöpfen nach dem Drama
Tatsächlich fiel es Philippe als Kind schwer, seine Fersen auf den Boden zu setzen, sodass sein Sportlehrer ihn als „Faulpelz” bezeichnete! Das hatte natürlich nichts mit Faulheit zu tun: Jacques Rognon erzählt, dass sein Sohn bis zum Alter von 16 Jahren Ski fahren und bis zum Alter von 25 Jahren Tischtennis spielen konnte. «Er kann immer noch schwimmen, vor allem mit den Armen, und er kann Auto fahren.»
Das Gespräch mit Jacques hat einige Tage vor dem Fototermin in Morges
in Neuenburg stattgefunden, auf einer Terrasse , die einen herrlichen Blick auf den See bietet; Jacques wohnt in der Region, in Colombier.
Er ist in der Gruyère geboren und erzählt mit vielen amüsanten Details aus seiner Kindheit, ist begeistert vom türkisfarbenen Wasser des Neuenburgerseees und den Möwen, die sich auf dem Terrassengeländer niederlassen – der weisshaarige Mann beeindruckt durch seine Lebhaftigkeit und Verspieltheit, während wir über ernste Dinge und brutale Schicksalsschläge sprechen. Die Familie Rognon musste nicht nur die bei beiden Söhnen diagnostizierten Krankheit verkraften, sondern auch den Tod von Vincent, der im Alter von nur 14 Jahren an Leukämie starb.
Jacques senkt für einen Moment den Kopf. Ja, angesichts dieser Tragödie hätte das Paar in einer Depression versinken oder sich scheiden lassen können, aber Jacques und seine Frau Monique beschlossen, «alle Hebel in Bewegung zu setzen
». Denn seltene Krankheiten hatten damals eines gemeinsam: Die Forschung interessierte sich nicht für sie, die Pharmaindustrie noch weniger. Jacques erinnert sich: «Wir wussten so gut wie nichts über diese Krankheit, weder über ihre Ursachen noch über ihre Mechanismen.» Die Begegnung mit Bernard Fulpius, ehemaliger Professor an der medizinischen Fakultät und ehemaliger Rektor der Universität Genf, war für ihn ein Auslöser.
Jacques hatte ihn im Rahmen einer Konferenz angesprochen, die der Professor bei der Association Suisse Romande Intervenant contre les Maladies neuroMusculaires (ASRIMM) hielt, um ihn zu fragen, was er tun könne, um etwas in Gang zu setzen. Der Professor habe ihn gefragt, ob er robuste Nerven habe. «Wenn ja, dann starten Sie die Forschung in der Schweiz!»
Vater des Telethons in der Schweiz
Robuste Nerven waren tatsächlich nötig. Zunächst, um die 40000 Franken für die Gründung der Stiftung im Jahr 1985 aufzubringen, die zum Grossteil durch den Verkauf von Neujahrskarten finanziert wurde, und dann, um die Forscher finanzieren zu können. Laut Jacques kostet eine dreijährige Doktorarbeit etwa 60000 Franken, ein Postdoktorat etwa 100000 Franken pro Jahr. Der Wissenschaftler konnte dank seiner verschiedenen beruflichen Tätigkeiten auf ein sehr grosses Netzwerk zurückgreifen. Zwanzig Jahre bei den Berner Kraftwerken, Generaldirektor der Energiegruppe Ensa in Neuenburg, Mitglied des Verwaltungsrats von Gaznat und EOS Holding, Vertreter des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen im Wirtschaftsrat der Economiesuisse, zwölf Jahre Mitglied des Rates der Eidgenössischen Technischen Hochschulen und fünf Jahre Mitglied des Rates der Universität Neuenburg:
Diese unvollständige Zusammenfassung seines Lebenslaufs vermittelt einen Eindruck von den Beziehungen, auf die er sich stützen konnte, um das Projekt voranzubringen. Jacques erzählt, dass der Stiftungsrat zwar auf sehr bekannte Mitglieder zählen konnte, aber nur über sehr geringe Mittel verfügte.
Ein Anruf eines Journalisten des Westschweizer Fernsehens brachte ihn auf die Idee des Telethons, der in den USA und Frankreich bereits gut etabliert war. Tatsächlich hat das Ehepaar Rognon zusammen mit den Partnern der Stiftung und ihren Freunden Yves Bozzio und Emanuel Dubochet den Telethon in der Schweiz ins Leben gerufen. Seit 1988 finanziert diese Wohltätigkeitsveranstaltung die Aktivitäten der SSEM zu 50 Prozent für die Forschung und zu 50 Prozent für die Unterstützung von Menschen mit Muskelerkrankungen. Jacques erzählt, dass der Telethon vor Covid jährlich 1 Million Franken einbrachte, heute sind es noch etwa 300000 Franken. Glücklicherweise kann die SSEM auch auf das Vermögen zählen, das Jacques' Cousin, ein Arzt, der Stiftung 2015 hinterlassen hat.
Er hat nicht locker gelassen
Wenn man Jacques von seinen unermüdlichen Bemühungen um Spendengelder, seinem Kampf auf politischer Ebene in der Schweiz für die Einrichtung der Plattform Orphanet in allen Kantonen und für eine finanzielle Beteiligung des Bundes zur Erfassung und Klassifizierung dieser seltenen Krankheiten erzählen hört, kann man nur ahnen, wie viel Energie er dafür aufbringen musste. Er selbst drückt sich bescheiden aus: «Ja, es ist anstrengend. Aber ich gebe nicht so schnell auf, auch wenn ich von Natur aus ein freundlicher Mensch bin.»
Die Zahlen sind beeindruckend, um nicht zu sagen deprimierend: Derzeit sind 8000 seltene Krankheiten bekannt, 40 davon betreffen die Muskeln. Die Hoffnung, dass die Forschung zu einem Medikament führt, bleibt ungebrochen. Die derzeitigen Behandlungen lindern hauptsächlich die Symptome, ohne die Ursachen zu bekämpfen, aber es zeichnen sich vielversprechende neue Therapieansätze ab, insbesondere in Form der Gentherapie. Heute ist Jacques Rognon Ehrenpräsident der SSEM, sein Sohn Philippe arbeitet dort als Teilzeitsekretär. «Wir hatten viel Unglück mit unseren Buben, aber wir haben etwas Bleibendes geschaffen», sagt er rückblickend. Bleibend ist auch sein Engagement für Rotary: Jacques ist seit 1990 Mitglied des RC Neuchâtel und war 2002/03 Präsident des Clubs.
Aber kehren wir noch einmal nach Morges zurück, wo Loris mit seiner Mutter Tiziana loszieht, um eine Runde City Golf zu spielen, während er auf die Rückkehr seines Vaters und Großvaters wartet. Es ist Ferienzeit, und Loris führt ein Leben wie alle anderen Jungen in seinem Alter. Na ja, fast. Jacques erzählt uns, dass Loris ein grossartiger betreuender Angehöriger und stolz auf seine Rolle ist. So sehr, dass er den Leuten, die von seiner Geschicklichkeit bei der Betreuung seines Vaters beeindruckt sind, zuruft: «Vergessen Sie nicht, dass ich der Chefpfleger bin!»
Die Stiftung feiert ihr 40-jähriges Bestehen
Die Schweizerische Stiftung für die Erforschung der Muskelkrankheiten (SSEM) unterstützt mit Stipendien Forscher, die in der Schweiz auf dem Gebiet der neuromuskulären Erkrankungen tätig sind. Diese Erkrankungen betreffen Zellen, die für die Bewegung und Atmung unerlässlich sind. Sie sind selten, oft erblich bedingt, können aber auch sporadisch auftreten. Als Monique und Jacques Rognon 1985 zusammen mit ihren Partnern, der ASRIMM in der Westschweiz und der Schweizerischen Muskelgesellschaft in der Deutschschweiz, die SSEM gründeten, waren die Ursachen der Krankheit völlig unbekannt. Seitdem hat die Stiftung 207 Projekte an medizinischen Fakultäten in der Schweiz mit insgesamt 33 Millionen Franken finanziert. Das 40-jährige Bestehen der FSRMM wird am 22. Oktober 2025 um 17.30 Uhr im Grossratssaal in Bern gefeiert.