Rettet uns die KI?

zondag 15 september 2024

Aljoscha Burchardt

Künstliche Intelligenz ist längst da und wird sich weiterentwickeln. Ob sie unser Freund oder Feind wird, hängt davon ab, wie wir mit ihr umgehen.

In diesem Beitrag soll es darum gehen, was Künstliche Intelligenz (KI) für uns tun kann oder tun sollte. Wir fangen mit der Dystopie an und schauen in die Gegenwart. In Deutschland sind zwei Millionen Stellen unbesetzt, Tendenz steigend. Der Fachkräfte- und Arbeitskräftemangel lähmt schon heute die deutsche Wirtschaft, Verwaltung, Gesundheitsversorgung, Bildung und andere Wirtschaftsbereiche empfindlich. Auch die Fachkräftestrategie der Bundesregierung macht nicht viel Hoffnung. Unsere Verwaltung ist dysfunktional und es schwappt eine gewaltige Verrentungswelle auf sie zu. Bis 2030 gehen nach Schätzungen 30 Prozent der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst in Rente. Globale Lieferketten haben sich durch internationale Krisen als weniger verlässlich herausgestellt, als man gehofft hatte. Erwähnen könnte man auch noch unsere marode Infrastruktur, angefangen bei den Autobahnbrücken bis hin zur mangelhaften Netzabdeckung. Als wäre das alles nicht genug, wird uns praktisch vom Bundesverfassungsgericht ins Stammbuch geschrieben, dass wir nicht alle Probleme des aus den Fugen geratenen Klimas auf künftige Generationen abwälzen dürfen und folgerichtig unsere Energiewirtschaft, Produktion, Heizungen, Mobilität et cetera in enger Abstimmung mit unseren globalen Partnern grundlegend erneuern müssen, allerdings ohne dass wir dafür einen Plan oder geeignetes Personal hätten. Da sei das Zwischenfazit erlaubt: Deutschland schafft sich gerade im Turbogang ab.

Was dürfen wir hoffen? Demokratisierung der Technologie light

Ich möchte an dieser Stelle nicht wie ein Taschenspieler die Technologie aus dem Hut zaubern, die alle Probleme lösen wird. Dennoch bin ich zutiefst überzeugt, dass die Lösungen von Gestern angesichts der Eigenschaften der genannten Probleme nicht mehr funktionieren und intelligente Technologie eine Schlüsselrolle bei der Lösung spielen wird. KI-Technologie ist nichts Neues, wir nutzen sie täglich. Suchmaschinen weisen uns den Weg durchs Web. Empfehlungssysteme schlagen uns relevante Nachrichten auf dem Smartphone vor oder Artikel im Online-Shop, die wir brauchen könnten. Und Navis leiten uns durch die Welt. Letztere vereinen übrigens KI-Technologien aus verschiedenen Jahrzehnten: Heuristische Suche nach dem kürzesten Weg (1960er), Sprachdialogsystem (1990er) und datenbasierte Stauprognose (2000er). KI kann manche Krankheiten früher erkennen als Ärzte und für Barrierefreiheit sorgen, wo kein Gebärdendolmetscher vorhanden ist. KI ist praktisch die grosse Schwester der Digitalisierung, die uns das Leben an vielen Stellen erleichtert.

So wie das Go-spielende Alpha-Go im Jahre 2016 in China einen KI-Boom ausgelöst hat, so hat vielen von uns die Veröffentlichung des grossen Sprachmodelles ChatGPT der Firma OpenAI im Herbst 2022 die Augen geöffnet, was diese Technologie (potentiell) alles kann. Während die freudige Nutzung der Technologie durch Schüler und Studenten beim Verfassen von Hausarbeiten im akademischen Betrieb bisher gemischte Gefühle ausgelöst hat, nutzen Informatiker schon heute solche Modelle, um effizienter zu programmieren. Die Ergebnisse der verschiedenen KI-Systeme beim Erzeugen von Bildern, beim Übersetzen oder Schreiben von Texten oder animierten Avataren sind auch für uns Experten erstaunlich. Und dennoch bleibt bei aller Euphorie ein Wermutstropfen: Das Ganze ist nur eine Demokratisierung light. Die Technologieentwicklung liegt fest in den Händen internationaler Hyperscaler, also Unternehmen wie Amazon, Facebook oder OpenAI, und wir sind bisher weitgehend Zuschauer, die sich durch (noch) kostenlose oder günstige Zugänge quasi mit Brosamen begnügen müssen. 

Es gibt aber bereits einige Ansätze in Deutschland, wie zum Beispiel das vom Wirtschaftsministerium geförderte Projekt OpenGPT-X, in dem auch das Heidelberger Startup Aleph Alpha Partner ist, oder die vom KI-Bundesverband gestartete Initiative LEAM, in der sich verschiedene Unternehmen und Forschungseinrichtungen organisiert haben, um Schritte in Richtung digitaler Souveränität zu orchestrieren. 

Ohne Menschen geht es nicht

Wird die Technologie uns helfen, die fehlenden Arbeitskräfte zu kompensieren? Es gibt eine ganze Menge Arbeitsplätze, die man nicht digitalisieren kann, weil es zu aufwändig wäre oder schlicht technisch noch nicht möglich ist. Bis ein Roboter eine Spülmaschine in einer Altbauwohnung anschliessen kann, wird noch einige Zeit vergehen, und es gibt viele Arbeitsplätze, die wir als Gesellschaft nicht automatisieren sollten, etwa dort, wo wir mit vulnerablen Gruppen wie Kindern oder Pflegebedürftigen arbeiten. Aber es wird auch viele Arbeiten geben, die wir beim Menschen halten wollen werden, weil wir sie schlicht gerne machen, weil sie uns ausfüllen. Und das ist auch gut so! Wie die Mensch-Maschine-Kooperation funktioniert, ist eine Gestaltungsfrage, keine Schicksalsfrage. 

Auch wenn KI-Systeme wie ChatGPT bisweilen recht altklug daherreden, dürfen wir nicht vergessen, dass diese Systeme ihre Fähigkeiten von uns erst lernen mussten. Das Basissystem GPT-3 hat aus Unmengen von Web-Daten ein Grundverständnis über die Sprache(n) erworben, indem ein Lernalgorithmus einem neuronalen Netz immer wieder Texte präsentiert und dabei irgendein Wort maskiert hat, das das Netz dann «erraten» musste. Das nennt man selbstüberwachtes Lernen. Dabei hat das Netz seine Parameter optimiert und wurde so zu einer Textvorhersagemaschine, also einem generativen Sprachmodell. Dieses spinnt dann beliebige Textanfänge täuschend echt weiter, egal ob man ihm einen Gedichtanfang gibt oder den Anfang eines wissenschaftlichen Aufsatzes. Das ist eigentlich das, was wir von den Vorschlägen beim Tippen in Suchmaschinen oder von Messages schon kennen, nur besser.

Damit der ChatGPT-Vorgänger InstructGPT auch auf Anweisungen wie «Schreibe mal eine Absage für diese Einladung!» reagiert, war dann aber menschliches Feedback nötig, das in ein anderes Lernverfahren eingeflossen ist, nämlich verstärkendes Lernen. Und damit ChatGPT beispielsweise ausgewogen auf problematische Anfragen reagiert, wurde es wiederum von Menschen trainiert, die entsprechenden Output bewertet haben. 

Die Details sind hier nicht so wichtig, es sollte nur klar sein, dass KI-Systeme ihre Aufgaben von uns lernen müssen. Wenn ich möchte, dass ein System Reparaturanfragen beantwortet, dann muss es mit den Teilebezeichnungen und technischen Zusammenhängen vertraut sein, wenn es Garantianträge bearbeiten soll, dann muss es bestimmte Regularien anwenden können. Neben den datenbasierten maschinellen Lernverfahren kommen in der Praxis dabei auch wissens- und regelbasierte KI-Ansätze zum Einsatz, die mit dem Expertenwissen aus der Fachabteilung gefüttert werden müssen. Nun gibt es in den Verwaltungen und Betrieben häufig noch die Haltung: «Bis ich in Rente gehe, reicht die Umlaufmappe noch, danach kann die junge Generation sich dann frisch an die Digitalisierung (und KI-Einführung) machen.» Diese Rechnung geht aber nicht auf. 

Im Handeln liegt die Kraft

Die Technologie ist gekommen, um zu bleiben, und wir haben die Hoffnung, dass sie uns bei verschiedenen Problemen helfen kann. Was sollten wir also tun? Die Zukunft gestalten! Das Einpassen und Anpassen der Systeme in die betrieblichen Abläufe müssen dringend jetzt geschehen, solange wir noch das Wissen um Kunden und Prozesse in den Betrieben und der Verwaltung haben. Wenn es erst einmal in Rente ist und niemand rechtzeitig nachkommt, dann wird es extrem schwierig, mit den wenigen Mitarbeiten «den Laden am Laufen zu halten» und die verpasste Digitalisierung nachzuholen.

Dort, wo wir gute Arbeit vermuten und wo wir dringend Menschen brauchen, wie etwa in der Pflege oder Ausbildung, können KI und Digitalisierung helfen, die Jobs attraktiver zu machen. Wenn Ärztinnen und Krankenpfleger heute 40 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Dokumentation verbringen, dann arbeiten sie de facto schon den halben Tag wie Roboter – nur nicht so zuverlässig. Diese Arbeiten können Datenbrillen oder Pillenroboter besser erledigen, die nie abgelenkt sind und nie ermüden. Wenn von der verbleibenden Zeit ein deutlicher Teil mehr am Patienten gearbeitet werden kann, dann haben wir, was die Digitalisierung betrifft, gewonnen. Und wenn Ausbilder beim Korrigieren von Tests und Rechenaufgaben Unterstützung bekommen und die Zeit in die Unterrichtsvorbereitung und in die individuelle Betreuung stecken können, dann ist das bestimmt auch ein Gewinn.

Arbeit sollte durch Digitalisierung und KI attraktiver gemacht werden. Als Inspiration können die «vier Ds der Roboterisierung» dienen: dull, dirty, dangerous und dear. Es sind also die repetitiven, schmutzigen und vielleicht sogar gefährlichen Arbeiten, die wir zuerst an die Maschinen delegieren sollten. Wir können es uns nicht mehr leisten, massenhaft Menschen Tätigkeiten ausführen zu lassen, die ohne Abstriche automatisierbar sind, etwa Formulare zu bearbeiten oder Pakete aus Lagern zu suchen. Es soll nicht darum gehen, Menschen durch Maschinen zu ersetzen. Vielmehr muss das soziotechnische System funktionieren, zu dem auch die Arbeitszufriedenheit gehört. Sinnvoll kann es hierbei sein, die Maschinen eine Triage ausführen zu lassen: Diese 60 Prozent Garantieanfragen durch Kunden sind eindeutig positive Fälle und diese 20 Prozent eindeutig negative Fälle, die bereits maschinell (mit menschlichen Stichproben zur Qualitätskontrolle) befürwortet, beziehungsweise abgelehnt werden können. Dann muss der Mensch sich nur noch um die 20 Prozent interessante Zweifelsfälle kümmern. Das wertet gleichzeitig noch seine Profession auf, da er dann dafür auch die nötige Zeit hat. 

Wo ist der Haken?

Sicher bringt KI-Technologie wie jede andere Technologie auch ihre eigenen Probleme mit sich, aber ich möchte hier nicht in den üblichen Gesang über Datenschutz und ethische Probleme einstimmen. In Vorträgen sage ich dazu gerne: «Je länger wir über Datenschutz und Ethik diskutieren, um so grösser ist die Gefahr, dass wir Ethik aus China und Datenschutz aus den USA einkaufen.» Beide Themen sind natürlich wichtig, aber wir haben in Europa und Deutschland gute Lösungen und Design-Prozesse erarbeitet, mit denen wir vertrauenswürdige KI implementieren können. 

Eine grosse Sorge, die mir die generative KI derzeit macht, ist die «Vermüllung» des Internets mit künstlich erzeugten Bildern und Texten und bald wohl auch Videos, Filmen und sonstigen Daten. Auf diesen, die ja oft nicht von echten Daten zu unterscheiden sind, werden nämlich in Zukunft dann die nächsten Generationen von KI-Systemen trainiert. Das kann dann dazu führen, dass die Qualität der Daten irgendwann wieder sinkt. Aber dafür finden sich hoffentlich Lösungen.

Eingangs habe ich geschrieben, dass es darum geht, was KI für uns tun sollte. Das würde ich nun gerne von Ihnen erfahren. Überlassen Sie die Beantwortung dieser Frage bitte nicht uns Technologen – nutzen Sie Ihre Gestaltungsmacht!


Zur Person

Dr. Aljoscha Burchardt ist Principal Researcher und stellvertretender Standortsprecher am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Berlin. Er ist Experte für Sprachtechnologie und Künstliche Intelligenz.


Dr. Aljoscha Burchardt