Die Präsenzpflicht beschäftigt die Gemüter

zondag 20 augustus 2023

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Rotary International hat 2016 das während Jahrzehnten gültige, strenge Präsenzen-Regime gelockert. Die Clubs wurden berechtigt, eigene Regeln zu beschliessen. Ein paar Unsicherheiten sind geblieben. Ein Update.

Der Gesetzgebende Rat von Rotary International, der «Council on Legislation», verabschiedete in seiner Session 2016 eine neue, beinahe schon revolutionäre Weisung bezüglich der Präsenzvorgaben für Rotarierinnen und Rotarier. «Clubs können ihre Präsenz- und Ausschlussregeln (bei unzureichender Präsenz) beliebig lockern oder straffen. Sie müssen aber nach wie vor Präsenzberichte an den Governor schicken. Es steht Clubs frei, sich nach wie vor an die traditionellen Regeln zu halten.» So berichtete die Zentrale in der deutschsprachigen Ausgabe ihres Resümees über die CoL-Beschlüsse. In der englischen Fassung fehlt das Wort «beliebig».

Im gleichen Jahr entschied die verfassungsgebende Versammlung von RI eine weitere Neuerung: «Clubs können ihre Meetings ändern, umlegen oder absagen, solange sie sich mindestens zweimal im Monat treffen. Clubs steht es aber auch frei, weiterhin die traditionellen Regelungen zu Meetings und Absagen zu befolgen.» Damit wurde der bis dahin übliche Wochenturnus durchbrochen. 

DIE DEFINITION VON PRÄSENZEN

Die Vorschrift, monatliche Präsenzberichte an den Distrikt zu übermitteln, wurde durch das CoL 2022 aufgehoben. Vermutlich auch, weil sich dort kaum je eine Führungskraft für diesen Papierkram interessierte. Unverändert geblieben ist die Verpflichtung der einzelnen Rotary Clubs, die Anwesenheit ihrer Mitglieder statistisch zu erfassen. Bekanntlich bietet Rotary Schweiz/Liechtenstein mit Polaris den Clubs ein bewährtes Tool an, um Präsenzen ohne einen überbordenden administrativen Aufwand registrieren und auswerten zu können. Als Präsenz gilt gemäss RI der Besuch von regulären Zusammenkünften («entweder persönlich, per Telefon oder per Internetverbindung») des eigenen Clubs oder von Satellitenclubs. Präsenzgutschriften kann auch erwerben, wer sich bei Clubprojekten oder anderen Veranstaltungen und Aktivitäten mindestens zwölf Stunden einbringt oder eine verhältnismässige Kombination aus beidem erfüllt. Ergänzend dazu wurde am CoL 2019 bestimmt, dass Mitglieder, die an ihrem Clubmeeting nicht anwesend sein konnten, ihre Teilnahme innerhalb desselben rotarischen Jahres nachholen können. 

Nach wie vor in Kraft ist überdies die sogenannte 85er-Regel. Sie lautet: «Rotarier können von den Präsenzanforderungen befreit werden, wenn sie Rotary mindestens 20 Jahre angehört haben und die Zahl der Mitgliedschaftsjahre plus des Alters mindestens 85 beträgt.» Hierzu wurde am CoL 2022 klargestellt, dass für diese Art Dispens von der Präsenzpflicht kein Einverständnis seitens des Clubvorstandes nötig ist. Es genügt, wenn das entsprechende Mitglied den Clubsekretär über einen solchen Wunsch informiert. 

RICHTWERTE VON ROTARY INTERNATIONAL

So weit, so gut. Die einzelnen Clubs wären somit berechtigt, selbst zu entscheiden, wie sie die Präsenzpflicht ihrer Mitglieder handhaben wollen. Die Betonung liegt auf «wären», zumal RI via «Einheitliche Verfassung für Rotary Clubs» immer noch an Prozentsätzen festhält. «Mindestens 60 Prozent», schreibt Rotary International in Artikel 10, Absatz 1, Abschnitt a, «mindestens 50 Prozent» in Artikel 13, Absatz 4, Abschnitt a, Ziffer 1 und «mindestens 30 Prozent» in Ziffer 2. Diese divergierenden Ansätze sind erklärungsbedürftig. 

Stephanie Theobald ist im Europa/Afrika-Büro von RI in Zürich als kompetente und zuvorkommende Ansprechpartnerin auch der Distrikte und Clubs in der Schweiz und in Liechtenstein tätig. Sie bestätigt, der Gesetzgebende Rat 2016 habe den Clubs eine grosse Flexibilität eingeräumt. Der damalige Beschluss habe aber nicht dazu geführt, dass die einheitliche Clubverfassung keine Präsenzrichtlinien mehr enthalte. In Ihrer Antwort auf unsere Fragen verweist sie auf den neuen Absatz 7 «Ausnahmen», der 2016 dem Artikel 10 beigefügt wurde: «Die Satzung [der Clubs] kann Bestimmungen enthalten, die nicht mit Artikel 10 übereinstimmen.» Gleichermassen wurde der Artikel 13, Absatz 4, um den Abschnitt c ergänzt: «Die Satzung kann Bestimmungen enthalten, die nicht mit Artikel 13, Absatz 4, übereinstimmen.»

«Die erwähnten Prozentsätze beziehen sich auf zwei verschiedene Aspekte», erklärt Stephanie Theobald. Bei den 60 Prozentpunkten gehe es darum, wie lange man an einem Meeting dabei sein müsse, um eine offizielle Präsenz zu erwirken. Der Artikel 13 definiere die Anzahl der besuchten Clubtreffen pro Halbjahr (mindestens 50 Prozent generell und mindestens 30 Prozent der Treffen des eigenen Clubs). Bei all diesen Zahlen handle es sich um Richtwerte, die vom Club in eigener Kompetenz angepasst werden können.

EIN REGLEMENT ALS PRAXISTAUGLICHES MITTEL

Die «Einheitliche Verfassung für Rotary Clubs» etwas zu entschlacken, wäre angezeigt. In diesem Regelwerk sind auf fünfzehn DIN-A4-Seiten zu viele, teils spitzfindige Paragrafen aufgelistet. Ob es zweckmässig ist, diese eins zu eins in Clubstatuten zu adaptieren, darf hinterfragt werden. Das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) führt unter den Artikeln 60 bis 79 auf, was in Vereinssatzungen zwingend enthalten sein muss. Rotary Clubs können in den Statuten den Präsenzpflichten ihrer Mitglieder zwar ein eigenes Kapital widmen, praxistauglicher wäre es jedoch, diese in einem separaten Reglement zu umschreiben. Für Statutenänderungen braucht es bekanntlich Zweidrittelmehrheiten, Reglemente können mit dem einfachen Mehr der Stimmenden korrigiert werden.

Rotary International vertritt den Standpunkt, dass Passagen in Clubstatuten, welche den Verfassungsdokumenten nicht entsprechen, nicht bindend seien. «Die Vorgaben der einheitlichen Clubverfassung gehen den Vorgaben in Clubstatuten vor.» Deshalb empfiehlt RI den Clubs, die Richtlinien der einheitlichen Clubverfassung als integraler Teil der Clubstatuten zu erwähnen. Welches Recht – Normen einer weltweiten Servicebewegung oder schweizerisches Recht – im Falle von Streitigkeiten Priorität hat, müsste situativ beurteilt werden. Gerichte anzurufen, statt eine gütliche Einigung zu erzielen, würde rotarischen Gepflogenheiten allerdings krass zuwiderlaufen.

Past RI-Direktor Urs Klemm (RC Aarau) appelliert, den Stellenwert eines Querverweises auf diese «Einheitliche Verfassung für Rotary Clubs» nicht zu unterschätzen. Ohne deren Einschluss würde das Risiko bestehen, dass die Clubstatuten nicht mehr mit den Regularien von Rotary International übereinstimmen würden, insbesondere wenn diese im Rahmen eines CoL revidiert worden seien. Das könne in einem Zivilprozess dazu führen, dass die Bestimmungen der einheitlichen Clubverfassung nicht anerkannt würden. Das sei beispielsweise in Deutschland im Rahmen eines Ausschlussverfahrens, dessen Ausgang für die Clubverantwortlichen unangenehme Konsequenzen hatte, eingetreten. 

ACHTUNG SPRACHFALLE

In diesem Zusammenhang drängt sich der Hinweis auf, dass die Übersetzung von RI-Akten zu unterschiedlichen Interpretationen verlockt. Ein Beispiel dafür ist die deutschsprachige Fassung der Musterstatuten. Unter den allgemeinen Bestimmungen zur Präsenz heisst es in Artikel 10, Absatz 1: «Jedes Mitglied sollte an den regulären Zusammenkünften dieses Clubs oder an denen des Satellitenclubs teilnehmen und sich bei den Dienstprojekten und anderen Veranstaltungen und Aktivitäten dieses Clubs einbringen». PDG Rocco Olgiati, CoL-Delegierter des Distrikts 1980, Rechtsanwalt und Mitglied des RC Lugano-Lago, hat verschiedene Sprachversionen miteinander verglichen. In der englischen Variante lautet der entsprechende Begriff «should», in der italienischen «deve», in der französischen «doit», in der spanischen «déberan». Sollen oder müssen? Englisch ist die offizielle Sprache des Council on Legislation. Rotary International besteht darauf, dass massgebend sei, was in englischsprachigen Dokumenten veröffentlicht werde. RI bewertet die Wörter «should» und «must» als gleichwertig, die Übersetzung von «should» mit «sollte» sei in diesem Kontext nicht adäquat.

PRÄSENZRECHT STATT PRÄSENZPFLICHT

Mit seiner Aufnahme in einen Rotary Club hat sich jedes Mitglied bereit erklärt, Verpflichtungen zu akzeptieren, sich mit rotarischen Werten zu identifizieren, Projekte mitzutragen, Chargen zu übernehmen. Rotarierinnen und Rotarier profitieren in einem ausgewogenen Verhältnis zu ihrem persönlichen Commitment jedoch auch von Privilegien. Sie erhalten etwa den Zutritt zu einem breitgefächerten gesellschaftlichen und beruflichen Netzwerk, wie es nur ein Serviceclub offerieren kann. Und sie sind legitimiert, überall auf der Welt an Meetings von Clubs, von Distrikten, von Rotary International teilzunehmen, Kontakte mit Menschen aus anderen Kulturen, Sprachregionen und Generationen zu pflegen, auf diese Weise ihren Horizont zu erweitern. Der Begriff «Präsenzpflicht» entpuppt sich in diesem Sinn als Unwort. Das Wort «Präsenzrecht» müsste signifikant höher gewichtet werden. Ein Recht, das man nie genug beanspruchen kann. Die Erfahrungen zeigt leider das Gegenteil: Vielen von uns fehlt die Courage, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, eigene Clubgrenzen zu überschreiten. Das ist bedauerlich.

Wenn in einem Club das Thema «Präsenzen» zu einem Dauerbrenner ausartet, ist das kein Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche. «Auf ihren Treffen kommen die Mitglieder freundschaftlich zusammen, man spricht über anliegende Dinge, bildet sich fort durch anregende Vorträge und tauscht Ideen zum humanitären Engagement aus», schreibt RI auf seiner Webseite rotary.org. Um Freundschaften zu fördern, ist persönliche Anwesenheit geboten. Wie sagte doch einst der unvergessliche, in 2019 verstorbene PDG Carlo Michelotti vom RC Bellinzona: «Mit einem leeren Stuhl kann man keine Freundschaft anknüpfen.»

PDG Carlo Michelotti