Unser Herz: das Zahnrad

giovedì 20 aprile 2023

Michael Brandtner & Verena Hahn-Oberthaler

Was als Service-Idee im Jahr 1905 in Chicago begann, entwickelte sich im Laufe der letzten Jahrzehnte zur Weltmarke. Über Merkmale und Herausforderungen einer starken Marke wie Rotary.

Wer eine Marke und ihren Erfolg verstehen will, sollte zuerst ihre Geschichte ergründen, um an die Wurzeln und damit an den genetischen Bauplan heranzukommen. Bei Rotary begann alles im Jahr 1905. Die Suche nach Anstand und Fairness im Berufsleben hat einen jungen Anwalt in den USA dazu gebracht, sich mit Gleichgesinnten zu umgeben. Der erste Rotary Club wurde gegründet und sieben Jahre später das Zahnrad zum Symbol und Logo des ersten Serviceclubs der Welt. Auch weitere Weltmarken wie Coca-Cola, Gillette, Milka, Nivea oder Persil werden in dieser Zeit geboren. Was starke Marken wie Rotary ausmacht und welchen Herausforderungen sie sich stellen müssen, wird anhand ausgewählter Marken – und Marketingprinzipien verdeutlicht.

Prinzip der Marktführerschaft

Wenn man die Geschichte von starken Marken studiert, stösst man in der Regel auf Pionierleistungen und bahnbrechende Visionen oder Produktideen. Coca-Cola war 1886 die erste Cola, Milka 1901 die erste Tafelschokoladenmarke, Persil 1907 das erste Waschmittel und Nivea 1911 die erste Creme auf Öl-Wasser-Basis. Paul Harris war mit seiner Serviceclub-Idee 1905 ebenfalls ein echter Marken-Pionier. Nur genügt es nicht, als Erster auf dem Markt zu sein. Entscheidend für den dauerhaften Erfolg ist es, die erste Marke in der Wahrnehmung und in den Köpfen der Kunden zu werden. Die Wikinger haben das nicht geschafft. Heute wissen wir, dass die Krieger des Nordens bereits vor Christoph Kolumbus in Amerika waren und würden sagen, dass sie ihre Leistung schlecht vermarktet haben, denn sie vergassen, die Geschichtsschreibung mit an Bord zu nehmen. So war im Jahr 1492 der Weg für Christoph Kolumbus frei, um bis heute als der Entdecker der Neuen Welt zu gelten.

Prinzip der Wahrnehmung

Wie den Wikingern erging es auch Powells.com, der ersten Internetbuchhandlung der Welt. Ihr «First-Mover-Advantage» reichte für den Durchbruch nicht aus, denn Powells.com schaffte die nächste Hürde, als Internetbuchhandlungspionier in die Wahrnehmung der Kunden einzugehen, nicht rechtzeitig. An diesem Punkt war Jeff Bezos mit Amazon schneller. Er verbreitete immer neue und relevante Nachrichten und betrieb rasch die digitale und globale Expansion.

Den Erfolgsweg in die Köpfe der Menschen schaffte Rotary rasch: Die Idee toleranter, weltoffener, engagierter Männer, die aus verschiedenen Berufen stammten und freundschaftlichen Umgang in Clubatmosphäre pflegten, verbreitete sich sehr rasch in den USA und bereits ab 1911 in der ganzen Welt. Im deutschsprachigen Raum fand die Idee in der Schweiz und Österreich bereits im Jahr 1925 erste Resonanz. Seither liess sich die weltweite Verbreitung von Rotary durch Clubgründungen auf allen Kontinenten nur zwischenzeitlich durch Kriege und totalitäre Regime aufhalten. Heute trifft man sich auch in Moskau oder Peking. Aber nicht nur die geografische Ausbreitung sorgte nachhaltig für Markenrelevanz, man setzte auch mit neuen Leistungen immer neue öffentlichkeitswirksame Akzente. Eines der wichtigsten Projekte war dabei gleich zu Beginn das Sponsoring einer öffentlichen Toilette in Chicago im Gründungsjahr 1905. Als Serviceorganisation mit konkreten, greifbaren Projekten sichtbar zu werden, war einer der Schlüssel zum Erfolg und war von Anfang an in der Marken-DNA verankert.

Prinzip der Dualität

Wenn man Märkte langfristig beobachtet, dann trifft man meist zwei dominierende Marken an. So haben wir heute Duos wie Coca-Cola und Pepsi-Cola, McDonald’s und Burger King, iPhone und Samsung Galaxy, Visa und Mastercard, Mercedes-Benz und BMW oder eben Rotary und die im Jahr 1917 gegründeten Lions. Diese beiden Serviceclubs konnten sich – vor allem auch durch die rasche internationale Expansion – absetzen. So sind heute Lions mit 1,4 Millionen und Rotary mit 1,2 Millionen Mitgliedern klare Marktführer. Dahinter folgen mit grösserem Abstand spätere Gründungen von Serviceclubs wie jene der Kiwanis mit heute 600000 Mitgliedern weltweit oder die Soroptimistinnen mit 160000 Mitgliedern. Diese Dualität kommt in der Regel beiden führenden Marken zugute, da in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, dass nur diese beiden Marken wirklich eine echte Relevanz besitzen. Der Grund dafür ist neurowissenschaftlich belegt. Menschen entscheiden gerne zwischen zwei Polen, unser Gehirn liebt Gegensätze, also auch klassische Entweder-Oder-Entscheidungen. Es klingt paradox, aber man kann sogar beobachten, dass sich Organisationen mitunter schwertun, wenn ihnen der Gegenpart abhandenkommt. Denn gesunder Wettbewerb fördert die Entwicklung und Profilierung beider Marktführer.

Prinzip der verbalen Positionierung

Eines ist den Rotariern dabei nicht wegzunehmen – und das ist die Originalposition. Sie denken an Cola – Sie denken an Coca-Cola. Sie denken an Energydrink – Sie denken an Red Bull. Sie denken an Internetsuche – Sie denken an Google. Sie denken an Videostreaming – Sie denken an Netflix. Sie denken an Elektroauto – Sie denken an Tesla. Sie denken an Pop-Art – Sie denken an Andy Warhol.

Aus Marken- und Marketingsicht könnte diese Original-Position als Claim in das Logo integriert werden. «The Original since 1905» wäre eine klare Ansage. Aber Vorsicht: Auf eine klare Aufgabenverteilung zwischen einem möglichen neuen Original-Claim und dem seit mehr als hundert Jahren gültigen und wegen seiner Alliteration gut funktionierenden Leitspruch «Service above Self» müsste dabei unbedingt geachtet werden.

Prinzip der visuellen Positionierung

Starke Marken besitzen meist ein einprägsames Logo, manchmal herrschen aber auch andere Formen der visuellen Positionierung vor, Coca-Cola setzt etwa auf den Wiedererkennungswert der Original-Konturflasche. Bei Rotary ist es das Zahnrad, das sowohl den Markennamen als auch das grundlegende Rotationsprinzip der ersten Treffen visualisiert. Aus Markensicht betrachtet ist das Logo der Rotarier damit stärker als jenes der Lions, das nur den Namen visualisiert. Das Beispiel der beiden Premium-Modemarken Polo Ralph Lauren und Lacoste unterstreicht dieses Phänomen. Bei Polo Ralph Lauren spielen der Markenname mit dem Bestandteil «Polo» und das Logo mit dem Polo-Reiter perfekt zusammen. Man sieht den Polo-Reiter auf einem Polohemd und man denkt automatisch «Polo Ralph Lauren».

Zudem wird auch die Premiumpositionierung subtil unterstützt, gilt doch Polo als eine der teuersten Sportarten der Welt. Auch Lacoste hat mit dem Krokodil ein einprägsames Logo. Aber nur wer weiss, dass der Weltklasse-Tennisspieler René Lacoste den Spitznamen «Das Krokodil» getragen hat, kann hier die Brücke zum Logo schlagen. Im Idealfall spielen visuelle Positionierung, verbale Positionierung und der Markenname wie bei den Rotariern perfekt zusammen.

Prinzip der Konsistenz

Die echte Stärke einer Marke liegt darin, wie sie aktiv im Tagesgeschäft gelebt wird. Verbale Positionierung, Markenname und visuelle Positionierung sind dafür die Basis, auf der das Verhalten der Marke aufbauen muss. Dazu gehören auch klare Regeln. Dies wusste offenbar auch Paul Harris. Um der stark wachsenden Organisation eine verbindliche Charta mitzugeben, erkannte er bereits 1910 die Notwendigkeit, die Säulen und Eckpfeiler des Serviceclubs klar zu definieren. So wurden in diesem Jahr die Vier Dienste formuliert. Nicht zufällig, nicht erfunden, nicht ausgedacht, sondern aus den ursprünglichen Intentionen des Gründers abgeleitet.

Wichtig ist dabei, dass sich eine Marke – trotz aller Regeln – in Reaktion auf die sich ständig ändernden Rahmenbedingungen über die Jahrzehnte mitentwickelt. So hätte es auch für BMW nicht ausgereicht, in den 1960er-Jahren einmalig die Positionierung und den Slogan rund um das emotionale Thema «Fahrfreude» festzulegen. Vielmehr sind Marke und Unternehmen gefordert, mit immer neuen Modellen diese Fahrfreude auch aktiv zu untermauern und zu leben. Auch Rotary setzte in seiner Geschichte zentrale Meilensteine, um die Marke aktiv weiterzuentwickeln und relevant zu halten. Nach dem Zweiten Weltkrieg etwa lässt der Glaube an einen Frieden viele Rotarier die Charter der United Nations (UNO) mitunterzeichnen. Im Jugenddienst wird seit 1955 international ausgetauscht. Vor mehr als 40 Jahren hat man mit dem Programm «Polio Plus» weltweit der Kinderlähmung den Kampf angesagt. Im Jahr 1989 hat sich Rotary auch für weibliche Mitglieder geöffnet und konnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auch wieder in den Staaten des ehemaligen Ostblocks Fuss fassen. Aus Sicht der Markenpositionierung braucht es rasch ein Nachfolgeprojekt für das erfolgreiche Engagement gegen Polio, um hier wieder einen globalen Kristallisationspunkt des weltweiten Engagements von Rotary zu haben, der auch medienwirksam ist.

Das Prinzip von PR und Werbung

Das Kommunikationsmuster zum Markenaufbau und zur Markenpflege – in einer analogen wie digitalen Medienwelt – lautet: «Zuerst PR, dann Werbung». So wurden etwa Marken wie Amazon, Ebay, Netflix, Red Bull oder Ryanair mit Public Relations gross. Heute setzt man bei diesen Unternehmen bereits massiv auf Werbung. Oder auch Tesla und Zoom. Beide Marken sind aktuell in der PR-Phase und bauen und leben ihre Marke jeweils mit klarer Positionierung und Aktualität. Irgendwann wird diese Aktualität nachlassen und die Werbung wird die PR als Leadinstrument in der Kommunikation ablösen (müssen).

Nur wenige Branchen und Unternehmen haben – so gesehen – das Glück, immer in der PR-Phase zu sein. Dazu gehören auch die Serviceclubs, die regelmässig durch ihre Aktivitäten in den Regionen für Aktualität sorgen können. Dabei ist der grösste Vorteil der Rotarier gleichzeitig auch die grösste Herausforderung. Aufgrund ihrer Struktur können die Rotarier die Kommunikation auf verschiedenen Ebenen perfekt umsetzen, egal ob auf Club-Ebene oder auf Distrikt-Ebene oder in den rotarischen Headquarters in Evanston oder Zürich. Aber genau dieser Vorteil ist gleichzeitig auch ein Nachteil, weil so die Koordination einer einheitlichen Markenkommunikation auch schwieriger wird. Hier sollte man unter Umständen Kommunikationsstrukturen neu denken, um das Synergiepotenzial aus regionaler, nationaler und globaler Kommunikation stärker zu heben. Auch ein jährlicher Kommunikationshöhepunkt könnte zusätzlich die Aufmerksamkeit bündeln. Ähnlich dem Nobelpreis oder den Oscars könnte ein globaler «Paul-Harris-Preis» oder «Rotary-International-Preis» einmal im Jahr öffentlichkeitswirksam verliehen werden.

An der Markenzukunft arbeiten

Die zentrale Herausforderung für starke Marken ist es, den richtigen Mix aus Stabilität und Erneuerung zu finden. Wichtig ist, dass sich jede Marke auch ihrer «Markengrenzen» bewusst ist. Starke Marken können gelegentlich ihre Markengrenzen überschreiten, wenn sie sich rechtzeitig wieder auf die Kernwerte besinnen. Denken wir an Nivea. Den Durchbruch schaffte Nivea mit der ersten Hautcreme auf Öl-Wasser-Basis in der markanten blauen Dose. Später wurde die Marke sanft in Richtung Pflege gedehnt, Nivea ist heute die führende Pflegemarke. Als man Ende der 1990er-Jahre bei Nivea in Richtung Schönheitspflege ging, hat man damit letztlich die Marke überdehnt. Dazu schrieb die Financial Times Deutschland im Dezember 2010: «Pflege-Fall Nivea: Eigentlich war Beiersdorf immer der Streber der Kosmetikbranche. Doch mit ihrer Flaggschiffmarke haben sich die Hamburger gründlich verzettelt. Nun steuern sie gegen – und wollen zurück zu den Wurzeln.» Genau dazu nutzte Beiersdorf das Jubiläum zum 100-jährigen Bestehen im Jahr 2011. Die Marke wurde wieder erfolgreich in Richtung «Pflege» refokussiert und repositioniert.

Gerade eine führende Marke wie Rotary mit einer starken Originalposition sollte also den Mut haben, immer wieder Neues auszuprobieren, aber mit Augenmass. Wie bei allen Serviceclubs geht es bei Rotary weltweit auch darum, neue Mitglieder anzusprechen, um damit global weiterzuwachsen. Alle Massnahmen, die man setzt, sollten idealerweise die zentralen Markenwerte verstärken. Premiummarken sollten zudem darauf bedacht sein, diesen Premiumstatus immer wieder neu zu definieren und nicht zu verlieren. Der wichtigste Aspekt für die Zukunft aber ist für jede Marke, für die eigenen Zielgruppen relevant zu bleiben. Jeder Rotarierin und jedem Rotarier weltweit kommt hier eine wichtige Aufgabe zu, sie sind die wichtigsten Markenbotschafter ihrer Gemeinschaft. Und jede starke Marke lebt vom Tun. Die Chance von Rotary liegt darin, regional, national und international relevante Themen und Probleme aufzugreifen, und damit Teil der Lösung zu sein. In vielerlei Hinsicht hat Paul Harris bereits 1905 die Weichen für die Zukunft gestellt.


Gustavus Loehr, Silvester Schiele, Hiram Shorey und Paul P. Harris (von links nach rechts)