Conny Thiel-Egenter, selbst passionierte Jägerin, fand es schlichtweg Wahnsinn: Jedes Jahr werden in der Schweiz rund 15000 Rothirsche erlegt. Während das Fleisch der Tiere genutzt wird, landen die Häute in der Regel in der Verbrennungsanlage. Von ihrer Freundin auf den Plan gerufen, wollte auch Kadri Vunder Fontana nicht länger tatenlos zusehen. Die beiden Rotarierinnen beschlossen, zu handeln – und gründeten «Cervo Volante».
Der Name könnte passender nicht sein: Ausgerechnet im altehrwürdigen Zürcher Stadthaus «Dammhirschli» hatten sich Conny Thiel-Egenter, Biologin, und die Chemikerin Kadri Vunder Fontana mit ihrem Unternehmen ursprünglich niedergelassen (inzwischen sind Lager samt Showroom an die Josefstrasse 53 weitergezogen). Dort steckten die beiden Rotarierinnen die Köpfe zusammen und tüftelten an Lösungen «für eine Zukunft nach 2025». Wie aus einem heimischen Hirsch ein Schuh wird, und warum ihr Label das Prädikat «nachhaltig» wahrlich verdient, verraten sie uns im Interview.
Liebe Conny, liebe Kadri, mein Mann war restlos begeistert, als er im Internet auf Eure Website stiess. Er ist selbst Jäger, beschäftigt sich seit Jahren mit Wild und Wald und Natur. Aber Schuhe aus Hirschleder? Die hatte er bis dato nicht. Wie kamt Ihr auf diese Idee?
Conny Thiel-Egenter (CTE): Bei uns in der Schweiz werden zur Bestandsregulation jedes Jahr etwa 15000 wildlebende Rothirsche geschossen. Ihr Fleisch wird verwertet, ihre Häute werden verbrannt. Dabei wären sie ein wertvoller Rohstoff! Ich habe mich früher masslos daran gestört. Und auch Kadri, meine Geschäftspartnerin, war einigermassen entsetzt, als ich ihr davon erzählte.
Kadri Vunder Fontana (KVF): Es ist doch irre, all diese Häute einfach zu verbrennen! Wir wollten da unbedingt etwas tun.
CTE: Die Idee kam uns während eines gemeinsamen Klettertrainings. Wir hatten über Möglichkeiten gebrütet, wie wir Schuhe und Accessoires aus Hirschleder herstellen könnten, mit möglichst geringem ökologischem Fussabdruck. Die komplette Wertschöpfungskette sollte so nachhaltig wie möglich sein.
Das war die Geburtsstunde von Cervo Volante?
KVF: Ja richtig! All die Felle sollten nicht länger in den Kadaversammelstellen enden; wir wollten sie nutzen! Dabei sollte alles möglichst ressourcen- und umweltschonend über die Bühne gehen – von der Konservierung der Häute über den Transport und die Ledergerbung bis hin zur Herstellung unserer Produkte. Wir gründeten also Cervo Volante und machten uns ans Werk.
Was im Frühling 2017 mit Euch beiden begann, hat sich inzwischen etabliert.
CTE: Das ist tatsächlich so. Das Team von Cervo Volante ist seit der Gründung ordentlich gewachsen. Jeder Einzelne von uns trägt mit seinem Know-how, seinem reichen Erfahrungsschatz und der Begeisterung für die gemeinsame Sache zum Unternehmenserfolg bei. Wir alle lieben die Natur. Und wir möchten, dass unsere Kinder sie noch genauso schön und intakt vorfinden wie wir. Gleichzeitig möchten wir neue Traditionen für unsere Kunden schaffen und dadurch die Modebranche ein klein bisschen verändern. Heute sind Schuhe aus Hirschleder vielleicht noch etwas Besonderes, aber vielleicht zählen sie schon in ein paar Jahren zum modischen Standard. Darauf arbeiten wir hin.
Das Thema Nachhaltigkeit spielt für Euch eine zentrale Rolle?
KVF: Das ist zweifellos so. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, hochästhetische Lederprodukte zu produzieren – mit bester Verträglichkeit für Mensch und Umwelt und Tier. Um das zu erreichen, setzen wir all unser Wissen ein. Ich selbst bin Chemikerin, Conny ist Biologin; wir haben im Team Designerinnen, Lederexperten und Wirtschaftsprofis. Wir werfen unsere Skills zusammen und versuchen, im Einklang mit der Natur zu produzieren. Daneben gilt es natürlich auch, ökonomisch erfolgreich zu wirtschaften. Und wir wollen sicherstellen, dass alle an der Beschaffungs- und Produktionskette Beteiligten faire Arbeitsbedingungen vorfinden.
CTE: Viele Unternehmen springen auf den Nachhaltigkeitszug auf, weil es gerade en vogue ist. Bei uns ist das etwas völlig anderes. Für uns ist Nachhaltigkeit keine Option, sondern der Ausgangspunkt all unserer Überlegungen. Wir betrachten Nachhaltigkeit als Basis für ein achtsames, verantwortungsvolles und wunderschönes Leben.
Gibst Du uns ein Beispiel?
CTE: Ja klar, gern. Wenn aus einem Hirsch ein Schuh werden soll, müssen einige Hürden überwunden werden. Das Leder soll in all seinen Facetten perfekt zum Einsatz kommen, wir möchten den Ausschuss auf ein Minimum reduzieren und wollen das Beste aus unserem Rohstoff herausholen. Vergiss nicht: Wir haben es mit einem Naturmaterial zu tun. Da braucht es viel Zeit und noch mehr Hirnschmalz, bis ein neues Produkt entworfen, hergestellt und für den Verkauf vorbereitet ist.
KVF: Jede Sohle, jedes Fussbett, jeder Reissverschluss: Wir haben alle, wirklich alle Bestandteile unserer Schuhe und Accessoires von Grund auf untersucht, um ihren ökologischen Fussabdruck zu ermitteln. Wo immer dies möglich ist, greifen wir auf umweltfreundliche und naturnahe Alternativen zurück, die noch dazu plastikfrei und ökologisch abbaubar sind. Das trifft auf das Nähgarn ebenso zu wie auf die Schuhschachteln und die -bändel.
Klingt ziemlich anstrengend.
KVF: Das ist es wirklich. Wo wir vorhin vom Klettertraining gesprochen haben: Was wir bei Cervo Volante machen, ist kein Waldspaziergang, sondern eine anstrengende Bergtour. Bisweilen eine Gratwanderung... Wir mussten unseren Produzenten überzeugen, seine Nähmaschinen umzurüsten. Andernfalls hätten wir unseren Naturgarnfaden nicht einsetzen können, weil es weniger Spannung erträgt als der synthetische Standardfaden. Unseren Schuhmacher mussten wir dazu bringen, es einmal mit Einlegesohlen aus Kokosfaser zu versuchen. Und der Ledermanufaktur mussten irgendwie verklickern, dass unsere Leder perfekt sind, auch wenn sie Schusslöcher aufweisen und vom wilden Leben der Hirsche zeugen.
Wie zeigt sich dieses «wilde Leben»?
KVF: In Form von Kratzern zum Beispiel, von Hautfalten und Narben. Was andere vielleicht als Makel betrachten würden, ist für uns ein Nachweis von Authentizität und ein Zeichen einer ganz besonderen Ästhetik.
Dann sind Eure Hirsche genauso wenig perfekt wie wir alle?
KVF: Das könnte man so sagen (lacht). Aber im Ernst: Die Häute der Hirsche mögen optisch vielleicht ein paar Mankos haben; als Grundlage für naturbelassenes Leder sind sie allerdings absolut perfekt.
Ihr selbst seid mit Eurem Unternehmen in Zürich zuhause. Woher stammen Eure Hirsche?
CTE: Bei Cervo Volante kommen ausschliesslich Felle von wildlebenden, nachhaltig bejagten Huftieren aus der Schweiz zum Einsatz. Aktuell nutzen wir vorwiegend Rothirsche aus den Kantonen Graubünden, Wallis, St. Gallen und Bern. Wir sammeln alle Häute in der Schweiz ein. Und alle Tiere wurden im Rahmen der gesetzlich streng reglementierten Jagd erlegt.
Was dem Laien vielleicht nicht bewusst ist: Jägerinnen und Jäger haben nicht einfach Freude am Rotwild und nutzen die Nahrungsressourcen aus der Natur; sie erfüllen mit dem Regulieren des Rotwilds auch einen wichtigen gesetzlichen Auftrag, indem sie übermässige Schäden am Wald verhindern.
Die meisten der Hirschhäute, die wir für Cervo Volante verwenden, wären früher einfach verbrannt worden. Dank uns bekommen sie ein zweites Leben und ja, auch eine Art Sinn.
Eines hätten wir beinahe vergessen: Was bedeutet eigentlich Cervo Volante?
CTE: Cervo Volante ist der italienische Name für den Hirschkäfer, der auf Englisch «stag beetle» und auf Französisch «lucane cerf-volante» heisst. Der grösste aller in Europa lebenden Käfer verdankt seinen Namen seinem stattlichen Mundwerkzeug, das stark an das Geweih eines Hirsches erinnert.
Bis der imposante Körper des Hirschkäfers ausgebildet ist, braucht es Zeit. Viel Zeit. Den Grossteil seines Lebens, nämlich fünf bis acht Jahre, verbringt der Hirschkäfer daher als C-förmige Larve im Jugendstadium. Eingebuddelt in die Erde, ernährt sich das Tier von totem Holz.
Später bevorzugen die ausgewachsenen Exemplare, die die lange Jugendphase überstanden haben, Buchen-, Linden- oder Weidenbäume. Am liebsten aber sind den Hirschkäfern Eichen. Wo die Wälder noch intakt, die Landstriche prall bedeckt sind, fühlen sie sich wohl. Sie sind daher der ideale Indikator für intakte, artenreiche Wälder – und das perfekte Wappentier für unser nachhaltiges Label.
Liebe Kadri, liebe Conny, wir danken Euch herzlich für das Gespräch und wünschen Euch weiterhin recht viel Erfolg.
Zur Person
Dr. Kadri Vunder Fontana blickt auf mehr als 15 Jahre Erfahrung im Geschäftsentwicklungs- und Umstrukturierungsmanagement zurück; ihr Schwerpunkt liegt dabei auf der Biotech- und Finanzindustrie. Seit vier Jahren führt sie die Nachhaltigkeitsbestrebungen bei einer baltischen Bank. Dr. Kadri Vunder Fontana ist Mitglied im RC Zürich Turicum und engagiert sich für sozial- und umweltrelevante Themen. Dr. Conny Thiel-Egenter ist seit mehr als 15 Jahren als Biologin und Geschäftsleiterin tätig; sie konzentriert sich dabei auf die Bereiche Ökologie, Naturschutz und Naturmanagement. Thiel-Egenter, ebenfalls Mitglied im RC Zürich Turicum, ist Mitinhaberin eines Beratungs-, Planungs- und Forschungsunternehmens. Sie liebt die Gebirgsjagd und erforscht gern blühende Wiesen. 2017 haben die beiden Cervo Volante gegründet. Das Unternehmen mit Sitz in Zürich stellt nachhaltige Schuhe und Accessoires aus Schweizer Hirschleder her. |